LIM CHUL WOO SEHNT SICH NACH DER INSEL SEINER HERKUNFT
Immer wieder malte Lim Chul Woo als Kind das Meer. Denn er stammte aus einem Dorf auf der kleinen Insel Pyeongildo (Kreis Wando) vor der südkoreanischen Küste. Mit seiner Familie zog er in den 1960er Jahren in die Großstadt Gwangju. Während Lims Klassenkameraden Lokomotiven, Flugzeuge und Hochhäuser zeichneten, malte er Wasser und Boote, erzählt er im Vorwort zu seiner frühen Erzählsammlung „Die Erde des Vaters“. Der Blick zurück wird auch die Bücher prägen, die Lim später schreibt. Sie sind für ihn, so bekennt er selbst, eine Art ewigen Heimkehrens. Auch seinen nun auf Deutsch erschienen Roman „Die keine Insel“ widmet er „den Namen meiner Kindheit, denen ich nachtrauere und die ich nicht vergessen kann“.
In einer schmalen Rahmenhandlung lässt er zunächst einen erwachsenen Erzähler auftreten, der die Nachricht vom Tod seiner Großmutter erhält und dadurch an das Inseldorf zurückdenkt, in dem er aufgewachsen ist. Der Erzähler heißt Cheol (철), teilt also trotz leicht veränderter Umschrift seinen Vornamen mit dem Autor. Wie auch schon der jugendliche Cheol in Lims Gwangju-Roman „Das Viertel der Clowns“ darf er als eine leicht fiktionalisierte Version des Autors gelesen werden. Mittlerweile wohnt Cheol zusammen mit Frau und Tochter in einem Hochhaus in Seoul. Seine Wohnung empfindet er als Käfig und die Stadt selbst als „unendliche Qual, mit ihrem abscheulichen Krach, all dem Dunst und den Abgasen“. Das Leiden an Großstadthektik und Hochhausenge sind bekannte Topoi in der koreanischen Literatur des 20. Jahrhunderts, hier aber werden sie ins Extrem getrieben. Ob man’s glaubt oder nicht: Nichts erwähnenswert Schönes hat Cheol in all den Jahren in Seoul erlebt, und die matten Stadtmenschen, die er kennengelernt hat, haben keinen tieferen Eindruck bei ihm hinterlassen. Frau und Tochter bleiben ebenfalls farblos. Nur wenn Cheol an die Insel denkt, auf der er aufgewachsen ist und die hier den erdachten Namen Nagildo trägt, steigen die buntesten Geschichten in ihm auf.
Diese Geschichten erzählt er im Roman „Die kleine Insel“, der keiner stringenten Handlung folgt, sondern als Sammlung von Anekdoten gelesen werden kann. Sie beginnt damit, dass Cheols Großmutter zu früher Stunde am Dorfbrunnen auf ihre Nachbarin Beoldeongnyeo trifft, die dort Wäsche waschen will. Da Beoldeongnyeo aber im Ruf steht, eine „sittenlose Schlampe“ zu sein, besteht die Gefahr, dass ihre Schmutzwäsche das heilige Brunnenwasser verunreinigt. Die Großmutter beschimpft Beoldeongnyeo daher auf so vulgäre Weise, dass diese ihre Wäsche nimmt und das Weite sucht. Im nächsten Kapitel schließt sich die Geschichte von Tante Oknim an, die behindert ist und von allen geärgert und verlacht wird. Der Höhepunkt dieser Episode besteht darin, dass ein fremder Mann sie zu vergewaltigen versucht. Da Oknim aber von Sex nichts versteht, denkt sie, der Mann habe es auf ihr Erspartes abgesehen. Auf ihr Geschrei hin laufen die Dorffrauen herbei, entdecken das Handgemenge in Oknims Hütte und lachen sich kaputt.