Ausland

Viel zu lange durften Paare mit gleichem Familiennamen in Südkorea nicht heiraten. Vernünftige Gründe gab es keine. Über einen liebesfeindlichen Anachronismus mit traumatischer Wirkung.


Liebesschlösser am Namsan-Turm in Seoul

Liebesschlösser am Namsan-Turm in Seoul

Nichts und niemand soll uns trennen! Liebesschlösser am Namsan-Turm in Seoul (Alle Fotos: ©️Tim Hirschberg)


Stellen wir uns vor, Romeo und Julia gab es wirklich. Nicht nur einmal, sondern x-fach, abertausende gebrochene Herzen wegen eines unbarmherzigen Liebes-Tabus. Willkommen in Südkorea. Bis in die 2000er Jahre hinein war es hier unzähligen Paaren mit gleichem Familiennamen verwehrt zu heiraten, wenn der gemeinsame Urahn aus derselben Herkunftsregion stammte. So wie wenn eine Frau Müller ihren Auserwählten Herrn Müller nur deshalb in den Wind schießen müsste, weil die beiden vielleicht vor 600 Jahren einen gemeinsamen Vorfahren in demselben Dorf hatten. Bei den meisten koreanischen Romeos und Julias dürfte der Grad der Blutsverwandtschaft in etwa so groß gewesen sein, wie wenn sich eine Träne im Ostmeer auflöst. Dennoch, keine Chance. Wer das Wagnis einer illegalen Heirat einging, war finanziell und gesellschaftlich ruiniert. Den Kindern einer solchen „Schandheirat“ wurde der Zugang zu Schulen erschwert.


Das Einzigartige an Südkorea wird gerne mit Gegensatzpaaren wie „Hightech und Tradition“ oder „Alt und Neu“ beschrieben. Das ist ein bisschen Phrasendrescherei, wenn man nur damit meint, dass buddhistische Tempel und Königspaläste im Schatten von Wolkenkratzern stehen oder technikbegeisterte Stadtmenschen archaisch anmutenden Kimchi essen. In welchen Großstädten gibt es nicht Vergleichbares? Am Berliner Alexanderplatz steht die mittelalterliche St. Marienkirche, Bürotürme rahmen die Gedächtniskirche ein, und die sogenannten High Potentials der Friedrichshainer Start-Up-Unternehmen gehen in der Mittagspause zur Fleischerei Domke, um Bouletten, Eisbein und Sauerkraut zu kaufen. Erst jenseits solcher oberflächlicher Erscheinungsformen finden sich die wirklich interessanten Anachronismen. Südkorea wird sie trotz des weit verbreiteten Fortschritteifers nur langsam los.


Der Namensfluch, der Verliebte manchmal ins Exil oder sogar in den Selbstmord trieb, war einer dieser klebrig-zähen Anachronismen. Sein Ursprung lag in der Joseon-Dynastie (1392–1910), die den Konfuzianismus und die damit verbundenen Vorstellungen zur Familienfolge stark machte. Wer alles zur Familie gehörte, wurde aus heutiger Sicht exzessiv bestimmt: Es waren alle, die irgendwann einmal denselben männlichen Vorfahren in derselben Herkunftsregion (bon-gwan/본관) gehabt hatten. So etwa, wie wenn sich die Blauäugigen dieser Welt, deren Augenfarbe laut Forschungen der Universität Kopenhagen auf einen vor 10 000 Jahren lebenden gemeinsamen Urahnen in Dänemark zurückgeht, als Familie fühlten. Die Formel „gleicher Familienname + identische Herkunftsregion des Urahnen = Heiratsverbot“ wurde in Artikel 809 des südkoreanischen Zivilgesetzbuchs rechtlich zementiert. Nordkorea, wo es eine ähnliche Norm gab, schaffte diese übrigens schon Ende der 40er Jahre ab.


Händchenhalten am Ostmeer in Sokcho: Liebende haben es oft schwer. Sei es durch Heirats-Tabus oder militärische Pflichten.

Die Folgen von Artikel 809 waren vor allem wegen der verschwindend geringen Nachnamensvielfalt in Südkorea erheblich. Rund 40 Prozent der Bevölkerung verteilten sich damals wie heute auf gerade einmal drei große Clans: den Park-Clan aus Miryang, den Lee-Clan aus Jeonju sowie den Kim-Clan aus Gimhae. Würde man vom Seouler Namsan-Turm eine Münze herunterwerfen, dann träfe diese ziemlich sicher jemanden, der von einem dieser drei großen Clans abstammt, beschreibt Familienanwalt Kwak Bae-hee die Situation. Konkret bedeutete das für junge Menschen, das Familienstammbuch ließ den Dating-Pool schrumpfen, und Herzschmerz war vorprogrammiert. Doch der gesellschaftliche Widerstand gegen Artikel 809 prallte immer wieder ab. Ewiggestrige frustrierte Singles missgönnten anderen das Glück, und konservative Gelehrte wollten konfuzianistische Ordnungsvorstellungen konservieren. Ihre Argumente waren allerdings dürftig, denn das Risiko für genetische Anomalien bei Kindern aus namensgleichen Familien ist nicht erhöht. Aus erbbiologischer Sicht lässt sich lediglich dafür argumentieren, dass Eltern nicht mit ihren Kindern, (Ur-)Großeltern nicht mit ihren (Ur-)Enkeln, Schwestern nicht mit ihren Brüdern, Cousinen nicht mit ihren Cousins und Tanten nicht mit ihren Neffen Nachwuchs haben sollten. Das alte Rechtssprichwort „Heiraten ins Blut tut selten gut!“ bringt das auf den Punkt. Einschränkungen, die darüber hinausgehen, sind fragwürdige Eingriffe in die individuelle Freiheit.


Dass die südkoreanische Regierung in den Jahren 1978, 1988 und 1996 beschloss, das Heirats-Tabu für Namensgleiche für jeweils ein Jahr auszusetzen, entlarvte die ganze Willkür von Artikel 809. Man stelle sich das gleiche Vorgehen bei anderen Rechtsnormen vor, etwa ein Jahr lang darauf zu verzichten, das Urheberrecht durchzusetzen. Was für ein Chaos! Im Falle von Artikel 809 bedeuteten die Ausnahmen aber – wenig überraschend – keine Apokalypse fürs südkoreanische Wertesystem. Schließlich sah das auch der höchste Gerichtshof ein und erklärte im Jahr 1997 Artikel 809 für verfassungswidrig. Bis 2005 dauerte es dann noch, bis der Namensfluch endgültig gebrochen war. Sogar noch länger hielten sich Heirats- und Schwangerschaftsverbote an den Universitäten. Die berühmtesten Leidtragenden waren der frühere Präsident Kim Young-sam und seine Ehefrau Son Myung-soon – Frau Son musste die Anzeichen ihrer Schwangerschaft unter weiter Kleidung verstecken, damit die Ewha Womans University sie nicht exmatrikulierte.

Zum Glück sind diese Zeiten passé. Statt Paare unter permanenten Inzestverdacht zu stellen, kann die südkoreanische Gesellschaft inzwischen die Liebe Gleichnamiger gutheißen. Als die Schauspielerin Song Hye-kyo den Schauspieler Song Joong-ki heiratete, wurde das „Song-Song-Paar“ sogar zum Liebling der Medienwelt. Hat Südkorea die Tragödie von Romeo und Julia also umgeschrieben? Teils teils. Das Song-Song-Paar wurde zwar schon nach 18 Monaten wieder geschieden, die Gründe waren diesmal aber allein privater Natur.

 

Foto von Tim Hirschberg

Foto von Tim Hirschberg

Foto: Tim Hirschberg


Tim Hirschberg

ist Sprachwissenschaftler und beendet momentan seine Doktorarbeit über Parenthesen. Er arbeitete mehrere Jahre lang in Südkorea an der Pusan National University in Busan und engagierte sich im Auftrag des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) für koreanisch-deutsche Projekte.