Ausland

Dies ist ein Beitrag des Magazins "Kultur Korea": https://kulturkorea.org/de/magazin/unertraegliche-anhaeufung-des-normalen

LITERATUR

UNERTRÄGLICHE ANHÄUFUNG DES NORMALEN

REZENSION - CHO NAM-JOO: „KIM JIYOUNG, GEBOREN 1982“

Das Hightech-Land Südkorea gehört zu den effizientesten Volkswirtschaften der Welt. Gleichzeitig hat eine traditionell strukturierte Kultur überlebt, in der Frauen vorrangig eine untergeordnete Rolle als Töchter und Ehefrauen eingeräumt wird. Immer wieder hat die Literatur aus Südkorea ebenso wie das noch weitaus erfolgreichere Kino einen Blick auf die inneren wie äußeren Verhältnisse im Land geworfen und von den Verwerfungen berichtet, zu denen Leistungsdruck und Materialismus, Einsamkeit und Kontrolle führen.

Cover Cho Nam-Joo

Cover Cho Nam-Joo

Cho Nam-Joo 
„Kim Jiyoung, geboren 1982"
Roman
aus dem Koreanischen von Ki Hyang-lee
208 Seiten
ISBN 978-3-462-05328-9
18,00 €
©️ Kiepenheuer & Witsch

Zuletzt hat das Cho Nam-Joo mit großem Erfolg getan. Ihr Buch „Kim Jiyoung, geboren 1982“ ist seit seinem Erscheinen 2016 ein Weltbestseller geworden und nun auch auf Deutsch erschienen. Die Schriftstellerin ist 1978 geboren, also in der „bleiernen Zeit“ der Diktatur, die die Grundlage legte für den rasanten Wirtschaftsboom und seine Folgen für die Individuen. Ihre Protagonistin mit dem Geburtsdatum 1982 ist nur unwesentlich jünger, 34 bei Erscheinen des Buches, und damit eine jener jungen Frauen, die ganz besonders zu leiden haben unter den festgefahrenen Verhältnissen, der systematischen Benachteiligung von Frauen und ihrem quasi-Ausschluss aus dem Arbeitsleben – bei gleichzeitig hohem Bildungsniveau und großer Leistungsbereitschaft.

Dass Cho Nam-Joo lange Jahre als Drehbuchautorin für das Fernsehen gearbeitet hat, erkennt man an ihrem Umgang mit dem Stoff. Sie schildert den Werdegang einer Tochter, der nicht nur in der Familie immer der Sohn und Bruder vorgezogen wird, während die Schwestern überfordert und unter der mangelnden Wertschätzung leidend, zu Hausarbeiten herangezogen werden und sich am Sparen für seine Zukunft beteiligten müssen. Auch in Schule und Universität stellen sich ihr, trotz der ausgesprochenen Lernbereitschaft, immer wieder Hindernisse in den Weg: Gnadenlose Konkurrenz, despektierliche Reden, um so empörendere Übergriffe, als selbstverständlich den jungen Frauen die Schuld dafür aufgebürdet wird – sogar in der eigenen Familie. Zwangsläufig stellt sich die Protagonistin die Frage, „ob es an mir gelegen haben könnte“. Auf dem demütigenden Weg zur ersten Anstellung „korrigierte (sie) ihre Ansprüche immer weiter nach unten“, um in einer ganz auf Männer zugeschnittenen Arbeitswelt zu landen: mit unendlich vielen Überstunden, Wochenendarbeit, festen Terminen für Teamsitzungen nach der Arbeit, Trinkgelagen mit respektlosen Kollegen und Chefs. Den Verlust dieses öffentlichen Lebens erleidet sie dann mit der Geburt der eigenen Tochter, wegen der sie (wie zwangsläufig) ihre Stelle aufgibt. Ihr Mann, dem sie ausdrücklich dankt für seine Fürsorge, kann sie nicht schützen. Schließlich wird sie verrückt an ihrem Leben, ihrer Überforderung, ihrer Enttäuschung und Einsamkeit, verrückt auch an den Wiederholungen der Sprachklischees, der kalten und lieblosen Kommunikation.

Die Autorin wählt typische und aufschlussreiche Situationen aus, spitzt zu, bleibt dabei lakonisch und auf gewisse Weise auch distanziert.  Die Figur, die sie in den Mittelpunkt ihrer Erkundungen stellt, ist eine exemplarische Figur – nicht Tiefenbohrungen und die Annäherung an individuelle Konstellationen und Erfahrungen, wie für einen Roman typisch, interessieren die Schriftstellerin, sondern der Realismus des Alltags mit seinen Details, die das Typische einer weiblichen Existenz im Korea von Heute ausmachen, kurz: die unerträgliche Anhäufung des Normalen. Dazu fügt sie hin und wieder Fußnoten an, etwa dass 1999 das Gesetz erlassen wurde, das Geschlechterdiskriminierung untersagt (in Deutschland 2006).

So entsteht eine erzählerische Begrenzung, hinter der die Autorin verschwindet. Ihre Protagonistin entwickelt keinen individuellen Zugriff auf die Welt, was der gesellschaftlichen Weigerung, sie als Individuum gelten zu lassen, entspricht, weil die ihr Leben prägt. Cho Nam-Joo hat damit einen Nerv getroffen, denn auch in Südkorea weisen MeToo-Debatte und Gebärstreik auf das große Unbehagen vieler Frauen an den patriarchalen Strukturen hin. Heute sind 60 % der 30-34 jährigen Frauen ledig: ein Versuch, der täglichen Diskriminierung und Rollenfestlegung zu entkommen. Statt wie noch eine Generation zuvor, die weiblichen Föten auszusortieren, um einen Jungen auf die Welt zu bringen, bekommen sie gar keine Kinder mehr. Frauen wie Kim Jiyoung, gut ausgebildet und realistisch genug, verweigern mittlerweile zuhauf die aussichtslose Rolle der Mutter.

Cho Nam-Joo liefert mit ihren gut gebauten Alltagsszenen durchaus empörende Bilder eines Frauenlebens, eine Anklage, jedoch keine These oder Gesellschaftsanalyse, warum und wie es zu derartig frauenfeindlichen Verhältnissen gekommen sein mag und auf welche Weise sie sich eine Veränderung vorstellt. 

Konfuzianismus und Kapitalismus seien eine grauenvolle Mixtur, da sie Gehorsam, Leistung, absoluten Respekt vor Autoritäten sowie reibungsloses Funktionieren fördere, dabei Familie und Tradition hochhalte, aber auch Geld und Gier und so für Konformität auf allen Ebenen sorge. So erklärte mir einst eine Germanistikprofessorin in Seoul die mentale Gemengelage in ihrem Land. Die allmähliche Industrialisierung mit ihren Härten sei in Europa abgefedert worden durch Sozialgesetze und Gewerkschaften, während in Korea mangelnde Sozialleistungen die Macht der Familie und auch die von Arbeitgebern zementierten. Dass darunter besonders Frauen zu leiden haben, liege auf der Hand. Sind es doch zutiefst patriarchale Verhältnisse, die den Frauen und ihren Leistungen jede Wertschätzung verweigern. Während ihr Bildungsstand und die Lebenserwartung gestiegen sind, mangelt es weiterhin an Partizipationsmöglichkeiten in Wirtschaft und Politik. 

Bevor wir unsere Empörung ganz auf koreanische Verhältnisse konzentrieren, sollten wir uns daran erinnern, dass auch in Deutschland der Verdienstunterschied zwischen Männern und Frauen bei gleicher Arbeit sich seit 2016 nur leicht auf 18 % verringert hat, dass mehr als ¾ der deutschen Hochschulleitungen männlich sind und dass die Repräsentation von Frauen in den Parlamenten des Landes zurückgeht, weil sich die Parteien nicht auf ein Paritätsgesetz einigen können.


 

* Das Buch ist im Argon Verlag auch als Hörbuch erschienen.

 

Foto von Barbara Wahlster

Foto von Barbara Wahlster

Foto: © Bettina Straub/Deutschlandradio

Barbara Wahlster

ist Literaturkritikerin und Autorin. Sie arbeitet vor allem für den Rundfunk und für Verlage und hat die Literaturredaktion von Deutschlandradio Kultur geleitet.