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CANNES 2022: DIE WICHTIGSTEN AUSZEICHNUNGEN GEHEN NACH SÜDKOREA

Nach zwei Jahren der Pandemie kehrt die koreanische Filmindustrie zurück zur Normalität und feiert erneut große Erfolge. Bei den 75. Internationalen Filmfestspielen gewinnt der Regisseur Park Chan-wook den Preis für die beste Regie. Auch sein Kollege, Schauspieler Song Kang-ho, wird ausgezeichnet. 

Die koreanische Filmindustrie hat nun wieder bewiesen, unbegrenzte Möglichkeiten für hochwertige Filminhalte zu haben. Das Land war auf dem diesjährigen Filmfestival in Cannes (vom 17.-28. Mai 2022) mit mehreren Projekten vertreten: Maestro Park Chan-wook zeigte den Krimi „Decision to Leave“; das Actiondrama „Broker“ wurde vom japanischen Regisseur Hirokazu Koreeda in Korea mit koreanischen Schauspieler:innen gedreht; ein Spionagethriller aus den 1980er-Jahren mit dem Titel „Hunt“, ein Regiedebüt des „Squid Game“-Stars Lee Jong-jae lief in Cannes außer Wettbewerb, und das introspektive Drama „Next Sohee“ von Jung Juli wurde in die Sektion La Semaine de la Critique eingeladen. Als ‚koreanisch‘ könnte man auch den Film „Return to Seoul“ des kambodschanischen Regisseurs Davy Chou bezeichnen. Darin geht es um eine in Frankreich aufgewachsene Koreanerin (in der Hauptrolle Newcomerin Park Ji-min), die vorübergehend in ihr Herkunftsland zurückkehrt. 




Tang Wei und Park Hae-il in “Decision to Leave” (© 2022 CJ ENM Co., Ltd., Moho Film)



Park Chan-wook erhält eine lang verdiente Auszeichnung

Park Chang-wook hat sich längst einen Preis bei den Filmfestspielen von Cannes verdient, sei es in der Kategorie „Bester Film“ für seinen Film „Old Boy“ im Jahr 2004 oder „Bestes Drehbuch“ für „The Handmaiden“ (‚Die Taschendiebin‘) im Jahr 2016. Aber bisher blieb er ohne Auszeichnung. Schließlich wurde sein letzter Film „Decision to Leave“ mit dem „Best Director Award“ ausgezeichnet, und der Preis wurde bereits vor Beginn des Filmfestivals vorhergesagt.

Parks Filme sind wie Labyrinthe. Es ist schwierig, sich in ihnen nicht zu verirren. Nur Kenner seiner Filme und treue Fans können daraus einen Ausweg finden. Daher sind seine Filme nicht jedermanns Sache. Das diesjährige Werk „Decision to Leave“ handelt von dem erstklassigen und gutaussehenden Polizeidetektiv Hae-joon. Er lebt getrennt von seiner Frau, die in einer kleinen, gottverlassenen Küstenstadt arbeitet, während der Kommissar für Mordermittlung die Laster der Großstadt, in diesem Fall Busans, für seinen Job braucht. Bald wird am Fuße eines nahe gelegenen Berges die Leiche eines Mannes gefunden. Der Detektiv trifft die schöne und mysteriöse Ehefrau des Ermordeten (gespielt von der chinesischen Schauspielerin Tang Wei). Ihre Ruhe und Gelassenheit über den Verlust erregen seinen Verdacht und wecken gleichzeitig seine Neugier. Er beginnt, ihre Wohnung zu überwachen, was sich langsam zur Besessenheit entwickelt. 

„Mein Film ist eine Liebesgeschichte und gleichzeitig ein Detektivdrama. Aber vor allem ist er eine Erzählung über Verlust, mit der sich jeder Erwachsene identifizieren kann. Ich wollte daraus keine Tragödie entwickeln. Deshalb habe ich versucht, die Story subtil, elegant und humorvoll zu erzählen“, sagt Park Chan-wook über seinen Film.  

Park ist ein Meister komplizierter Liebesgeschichten, die er oft mit einer dem asiatischen Mainstream nicht vertrauten Offenheit erzählt, wie beispielsweise in seinem vorletzten Film „The Handmaiden“ (‚Die Taschendiebin‘), in dem er Szenen lesbischer Liebe dem Betrachter offen zeigte. Im aktuellen Werk lässt Park keine Frivolität zu: „Diesmal wollte ich einen anderen Film drehen. Da es sich um eine Geschichte von Menschen handelt, die ihre wahren Gefühle verbergen, wollte ich das Publikum dazu bringen, sich diesen Menschen zu nähern, einen Blick in ihre Gedanken zu werfen und neugierig darauf zu sein, was sie denken“. Tatsächlich berühren sich die Protagonisten kaum. Auch ihr verbaler Austausch ist recht dürftig, dafür wird ihre besondere Verbindung durch parallel choreografierte Szenen gezeigt, ähnliche Bewegungen und Gesten, die die Verwandtschaft beider Seelen auf einer gewissen spirituellen Ebene betonen. „Die menschliche Wahrnehmung neigt zur Täuschung“, erklärt der Regisseur weiter, „Ist ihr Kleid grün oder türkis? Wie die Berge und das Meer zwei Bestandteile derselben Landschaft sind und je nach Wetter ihre Farbe ändern können, so kann ein blaues Kleid grün erscheinen, wenn sich die Beleuchtung ändert.“   




Alte Probleme, neue Standorte




Song Kang-ho und Gang Dong-won in „Broker“ (© 2022 Zip Cinema & CJ ENM Co., Ltd.)



Man könnte behaupten, der japanische Regisseur Hirokazu Koreeda habe sein ganzes Leben lang immer nur ein- und denselben Film gedreht. Darin versucht er, die Familie als Institution aus verschiedenen Perspektiven zu untersuchen. Die Mitglieder seiner Familien sind oft Ausgestoßene, die nicht durch Verwandtschaft verbunden sind, sondern sich freiwillig zu einer Ersatzgemeinschaft zusammenschließen. Diesmal entscheidet sich Koreeda dafür, dieses Thema auf die koreanische Gesellschaft zu übertragen und vor allem das heikle Thema der Adaption anzusprechen. „Als ich für meinen Film „Like Father, Like Son“ recherchierte, stieß ich auf eine sogenannte ‚Babyklappe‘ in einem Krankenhaus in Kumamoto, Japan. Ich fand heraus, dass Südkorea ähnliche Einrichtungen hat, in denen viel mehr Babys abgegeben werden. Seit 2015 habe ich in Cannes Gespräche mit südkoreanischen Schauspieler:innen darüber geführt, dass wir einen gemeinsamen Film drehen sollten. So fing ich an, darüber nachzudenken, wie ich beide Ideen kombinieren kann“, berichtet der Regisseur, wie er auf die Idee zu seinem Film „Broker“ kam.



Song Kang-ho in “Broker” (© 2022 Zip Cinema & CJ ENM Co., Ltd.)

 

In „Broker" geht es um ein illegales Geschäft: den Schwarzmarktverkauf von Babys, um die bürokratischen und finanziellen Probleme einer legalen Adoption umzugehen. Der Film beginnt mit einer jungen Frau, So-young (Lee Ji-eun), die ihr Baby in einer Babyklappe für verzweifelte Mütter in einer Kirche in Busan zurücklässt. Gewöhnlich landen solche Kinder in Waisenhäusern und warten auf ihre Adoption. Manchmal findet diese nie statt, aber für das Kind von So-young war ein anderes Schicksal bestimmt. Das Baby kommt in die Hände des verschuldeten Textilreinigers Sang-hyun (Song Kang-ho) und seines jüngeren Partners Dong-soo (Gang Dong-wan), der selbst einmal Waise war. Ihr Handeln ist illegal, aber nicht ohne gewissen Altruismus. Schließlich wünschen diese beiden eine erfolgreiche Adaption für das Kind. Eine strenge Polizistin, Soo-jin (Duna-bae) ist ihnen bereits auf die Spur gekommen und ein Katz-und-Maus-Spiel entfaltet sich vor dem Betrachter, bei dem es keine Gewinner geben wird, aber die Zuschauer immerhin mit den Protagonist:innen auf eine Reise durch Korea gehen dürfen. Der südkoreanische Schauspieler Song Kang-ho, der die Rolle von Sang-hyun spielt, ist längst ein Stammgast in Cannes. Erst 2019 war er hier mit der Filmcrew von „Parasite“, und letztes Jahr wurde er in die internationale Jury eingeladen. Dieses Jahr kam er erneut mit dem Film des japanischen Maestros und gewann dabei den Schauspielerpreis. „Je ernster die Dinge sind, desto mehr möchte ich meinen Filmen einen Hauch von Humor geben. Song Kang-ho ist der ideale Schauspieler für diesen Zweck, da er diese beiden Seiten in sich hat“, begründet Koreeda seine Auswahl des Hauptdarstellers. Song wiederum beschreibt den Regisseur als „jemanden, der die koreanische Kultur sehr gut kennt, gerne Herausforderungen sucht und weiß, diese zu meistern“


Vom Schauspieler zum Regisseur



Lee Jung-jae, der im Westen für seine Hauptrolle in der erfolgreichen Netflix-Serie „Squid Game“ bekannt wurde, brachte zum Filmfestival sein Regiedebüt „Hunt“ mit. Die Story des Filmes ist in den 1980er-Jahren angesiedelt. Ein Mitglied von Koreas National Intelligence Service verfolgt einen nordkoreanischen Spion und erfährt dabei sehr unerfreuliche Geheimnisse über sein eigenes Land. Lee hat bei diesem Film nicht nur Regie geführt, sondern auch das Drehbuch geschrieben und die Hauptrolle gespielt. Um seinen Film dem internationalen Zuschauer anzupassen, entschied er sich, „nicht zu tief in den Kontext des politischen Lebens Koreas der Vergangenheit einzutauchen“. Sein Kompagnon in der Produktionsfirma „Artist Company“, Jung Woo-sung, spielte ebenfalls mit. Er ist als Chef einer anderen südkoreanischen Spionageabteilung zu sehen.


Lee Jung-jae und Jung Woo-sung in „Hunt“ (© Megabox Plus M)


Ursprünglich wollte Lee nicht auf der anderen Seite der Kamera stehen, sondern den Film nur produzieren. Aber seine Suche nach passenden Kandidaten für den Posten des Regisseurs blieb ergebnislos, sodass der Künstler die Regie selbst übernahm. Bei der Vorstellung seines Filmes in Cannes zeigte er sich besorgt über die Fülle der Informationen, mit denen sich die Menschen heute befassen müssen: „Heute haben wir viele Probleme mit Fake News, und wir wissen nicht, ob wir den Nachrichten, die wir erhalten, trauen können. Manche Leute verarbeiten Informationen zu ihrem eigenen Vorteil, fälschen sie und betreiben Propaganda. So begann ich mich zu fragen, wie es in Korea früher war, wo Informationen viel langsamer übermittelt und kontrolliert wurden oder wie sich die Situation auf meine eigenen Werte auswirkt, was mich letztlich zu diesem Film inspirierte.“


Noch mehr über Adoption und die gesellschaftlichen Probleme 



Inspiriert von wahren Begebenheiten erzählt Julie Jung in „Next Sohee“ von einem Teenager-Selbstmord. Dies ist der zweite Spielfilm der Regisseurin, deren Debüt „A Girl At My Door“ in Cannes in der Sektion Un Certain Regard 2014 uraufgeführt wurde und später Preise auf mehreren Festivals gewann.

Park Min-ji in „Return to Seoul“ (© Festival de Cannes 2022)

Sohee (Kim Si-eun) ist der Name einer Highschool-Schülerin aus Jeonju, die einen Job im Callcenter eines Internetproviders antritt. Bald wird sie mit der harten Lebensrealität inklusive Missbrauch am Arbeitsplatz konfrontiert. Sie erlebt den Tod ihres Chefs mit, was einer der Gründe für ihren eigenen Selbstmord wird. Die Untersuchung des Geschehens wird von der Detektivin Yoo-jin (Duna-bae) geleitet, die eine persönliche Verbindung zu dem Mädchen hat und deshalb die Ermittlungen zum Missfallen ihres Chefs und der Behörden besonders gründlich vornehmen will. Aus dem Film wird jedoch kein Thriller, sondern eine schonungslose sozialkritische Entlarvung der gesellschaftlichen Probleme, auch wenn alles etwas langsam geschieht. 


„Ich konnte den enormen kulturellen Einfluss Koreas sehen. Viele Menschen hören heutzutage die neuesten koreanischen Hits oder sehen koreanische Filme. Früher war das ein Phänomen, das nur in Asien auftrat, jetzt ist es einfach überall“, begründet der kambodschanische Regisseur Davy Chou seine Motivation, in und über Korea zu drehen.

Tatsächlich zeigt sich die koreanische Filmindustrie inzwischen viel internationaler als zuvor. Heute wollen viele ausländische Filmemacher in Korea drehen und noch mehr sind daran interessiert, koreanische Talente in eigene Produktionen einzuladen. Chous „Return to Seoul“ ist eine fiktive Geschichte, die aber lose auf dem Leben einer Freundin basiert. „Es war im Jahr 2011, als ich in Busan meinen Film „Golden Slumbers“ zeigte. Eine Freundin (in Frankreich aufgewachsene Koreanerin) hat mich damals zum Filmfestival begleitet. Nachdem wir dort zwei Tage verbracht hatten, schrieb sie plötzlich ihrem leiblichen Vater. Ich wusste nichts über koreanische Adoptionen und nichts darüber, wie adoptierte Kinder herausfinden können, wer ihre leiblichen Eltern sind. Aber in Korea ist das System sehr einfach, solange man die eigene Fallnummer kennt. Ich habe sie bei ihrem Treffen begleitet, zugesehen und dachte dabei, dass manche Szenen in einen Film gehören,“ erzählt Chou darüber, wie es zu seinem Film kam. Die Hauptrolle spielt darin die Debütantin Park Ji-mins, die ebenso wie ihre Protagonistin, in Frankreich aufgewachsen ist. Im Film heißt sie Freddie und kommt nach Seoul, wo sie mit neuen Freunden die Stadt entdeckt. Doch bald findet sich die junge Frau vor einem Adoptionszentrum wieder, hier fängt ihre Suche nach den leiblichen Eltern an und mündet schließlich in den Weg zur Selbsterkenntnis und Akzeptanz. 






Bild von Dr. Tatiana Rosenstein

Bild von Dr. Tatiana Rosenstein

Foto: privat

Dr. Tatiana Rosenstein

Kunsthistorikerin und Filmwissenschaftlerin, berichtet seit 1999 für deutschsprachige und ausländische Medien von internationalen Filmfestivals und ist in Kritikerjurys tätig. Sie verfasst ihre Beiträge in mehreren Sprachen, wobei ihre Veröffentlichungen von Reed Business Information, Condé Nast, Hearst oder Hachette Filipacchi von Europa und Russland bis nach China und Korea reichen.