Über das Youtube-Phänomen „Mukbang“
Von Damla Tosun
Von Damla Tosun
Südkorea ist ein Land mit einer facettenreichen Kultur, und die Wertschätzung für das Essen ist groß. Die gängige Begrüßung in Südkorea lautet nicht „Hallo, wie geht es dir?“, sondern „Hallo, hast du schon gegessen?“. Die betreffende Person wird nicht geduzt, es sei denn sie ist gleichaltrig oder jünger oder ein guter Freund/ eine gute Freundin. Die koreanische Bevölkerung hat jahrhundertelang strikt nach konfuzianischen Traditionen und Richtlinien gelebt, sodass deren Einfluss auf die Entwicklung der koreanischen Kultur in der Vergangenheit immens war und es in bedeutendem Maße immer noch ist.
In der koreanischen Esskultur werden die Gerichte meist in Schüsseln in der Mitte des Tisches platziert. Jede Person nimmt sich etwas in ihre eigene kleinere Schüssel, denn das gemeinsame Essen wird als Miteinander betrachtet, und das Teilen der Gerichte stellt die Nähe der Beteiligten untereinander dar. Daher ist es in Korea höchst unüblich, allein ins Restaurant zu gehen - eine befremdliche Reaktion der anderen Gäste wäre der/dem Betreffenden sicher. Wie kann also ein geselliges Essen gelingen, wenn Freunde und Familienmitglieder keine Zeit haben?
Da erweisen sich die sogenannten „Mukbang-Videos“ insofern als Rettungsanker, als die Betreffenden vor laufender Kamera essen und Außenstehende auf diese Weise beteiligen. Das Wort „Mukbang“ (koreanisch: 먹방) heißt wortwörtlich übersetzt ‚essen Sendung/Übertragung‘ (englisch: ‚eating broadcast´). Interessanterweise werden diese Art von Videos weltweit auch als „Mukbang-Videos“ bezeichnet, ohne dass Übertragungen des Wortes in andere Sprachen geläufig wären.
Die Auswahl und die Maßlosigkeit des Essens charakterisieren das Phänomen „Mukbang“ im Wesentlichen. Das Angebot an Mukbang-Videos ist mittlerweile sehr groß. Wie auf allen Märkten mit vielen Anbietern gibt es auch hier einen harten Konkurrenzkampf. Um viele Aufrufe verzeichnen zu können, kreieren manche „Mukbanger“ höchst ungewöhnliche Zusammenstellungen an Gerichten, die sie dann in solchen Unmengen verspeisen, dass eine vierköpfige Familie davon satt werden könnte. Ohne Sensation keine Klicks.
Die koreanische Mukbangerin Tzuyang verspeist Unmengen Sashimi (Screenshot: Damla Tosun von tzuyang/Youtube).
Die koreanische Mukbangerin Tzuyang verspeist Sashimi in Unmengen (Screenshot: Damla Tosun von tzuyang/Youtube).
Mukbang geht augenscheinlich auf folgendes Ereignis zurück: „Eines Tages 2007, so geht die Legende bei Afreeca.TV, habe einem bekannten Gamer während einer Liveschalte der Magen geknurrt und daraufhin habe er angefangen, einen Becher Instant-Ramen zu schlürfen. Der Rest sei ‚Geschichte‘“[1]. Da „Mukbanger“ anderen Menschen indirekt Gesellschaft leisten, verzeichnen sie mittlerweile Millionen von Aufrufen. Eine der bekanntesten Mukbangerinnen ist Tzuyang (koreanisch: 쯔양), die etwas mehr als sechs Millionen Abonnenten auf ihrem YouTube Kanal hat. Mit ihrem populärsten Video kann sie aktuell (Stand: August 2022) bereits etwa 18 Million Aufrufe verbuchen. Ein Grund für ihre Popularität besteht darin, dass sie eine sehr schmale und recht kleine Person ist, aber Unmengen ,vertilgen‘ kann. Zudem wirkt sie durch ihr freundliches und lustiges Auftreten wie eine gute Freundin, mit der man sich zum Essen getroffen hat. Obwohl sie in ihren Videos nur koreanisch spricht, hat sie Abonnent:innen aus vielen verschiedenen Ländern. Unter ihren Videos sind viele verschiedensprachige Kommentare zu finden. Diese belegen unter anderem auch die weltweite Nachfrage nach Mukbang-Videos und beweisen, dass Länder- und Sprachgrenzen keine Rolle spielen.
Wieso sind Mukbang-Videos eigentlich so beliebt? Einer der Hauptgründe ist: Sie helfen über Einsamkeit hinweg. In Korea gibt es die Bezeichnung „혼자 먹는 밥“ (honja mŏngnŭn pap). Verkürzt wird es auch als „혼밥“ (honbap) bezeichnet, was bedeutet, dass eine Mahlzeit alleine gegessen wird. Viele Menschen bekämpfen mithilfe solcher Videos ihre Einsamkeit. Wenn sie sich beteiligen möchten, können sie die Chatfunktion der Live-Streaming-Videos benutzen. Mit etwas Glück wird sogar darauf geantwortet.
In dem Buch „Rejuvenating Korea: Policies for a Changing Society“ der OECD aus dem Jahr 2019[2] wurde unter anderem die Verteilung der Haushalte nach Haushaltstypen verglichen. Demzufolge prognostizierte die OECD bis zum Jahr 2045, dass Einpersonenhaushalte 36% aller Haushalte in Korea ausmachen werden, wohingegen Paar-mit-Kinder-Haushalte deutlich auf 16% sinken und Paarhaushalte ohne Kinder ungefähr auf 21% steigen sollen. Vor dem Hintergrund dieser Prognosen dürfte die Einsamkeit in den nächsten Jahren zunehmen.
Mukbang-Videos sind vielfältig, wie die „Cookbang-Videos“ belegen, bei denen neben dem Essen auch der Kochprozess Teil der Präsentation ist. Bei den sogenannten ASMR- (Autonomous Sensory Meridian Response-)Videos reden die Mukbanger:innen kaum oder gar nicht, sondern stellen ein sehr geräuschempfindliches Mikrofon vor sich auf, mit Hilfe dessen verschiedene Geräusche, die beim Essen entstehen, aufgenommen werden. Hierbei handelt es sich also primär um ein geräuschkonzentriertes Erlebnis.
Tzuyang (koreanisch: 쯔양) (Screenshot: Damla Tosun von tzuyang/Youtube)
Zu den negativen Konsequenzen zählen unter anderem Essstörungen, Fettleibigkeit, Veränderung der Wahrnehmung der Zuschauer:innen in Bezug auf Lebensmittelverzehr, Tischmanieren, Essgewohnheiten, erhöhter Nahrungsverzehr aufgrund sozialer Vergleiche oder Nachahmungen, etc.[3] Dennoch merken die Autor:innen an, dass es auch positive Konsequenzen gibt, wie zum Beispiel die Abschwächung der sozialen Isolation und die Erfüllung des emotionalen und körperlichen Hungers, welches durch ihre eigene Diät eventuell verursacht wird. Studien zufolge stillen Personen, die eine Diät machen und sich derlei kulinarische Exzesse verkneifen müssen, durch diese Videos augenscheinlich sogar ihr Verlangen nach Essen. Beschrieben wird dieser Effekt als „(...) eine stellvertretende Sättigung durch visuelle und akustische Stimulation“[4].
Mukbang-Videos sind ein ambivalentes Thema, aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sie ihren Platz im Alltag vieler Menschen gefunden haben. Wer diese Welt betritt, kann ihr zuweilen nur noch schwerlich entfliehen. Daher sollte vorab der Grundsatz gelten: „Anschauen auf eigene Gefahr!"