Ausland

„Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können“ steht über dem großen, goldenen Spiegel geschrieben, in den Jin gedankenverloren hineinschaut. Es handelt sich um ein Zitat des deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche in dem Musikvideo zu Blood, Sweat and Tears der koreanischen Boygroup BTS. Hohe Philosophie und Populärmusik. Was auf den ersten Blick wie eine außergewöhnliche Kombination erscheinen mag, ist mittlerweile zu einem festen Bestandteil der Welt des koreanischen Pop geworden. Denn neben den attraktiven Stars, bunten Konzepten und dynamischen Choreografien steckt im K-Pop viel Kunst und Inspiration, wie vornehmlich die Musikvideos beweisen. Literarische Werke, Gemälde, Märchen und vieles mehr – sie alle dienen als Grundlage für die vielfältigsten Videos, in welche sie primär in Form von Symbolen einfließen. Eine scheinbar unauffällige Szene kann einen Reichtum an Symbolismus und Bedeutungen enthalten, die von Fans sorgfältig analysiert und interpretiert werden. Die Gruppe BTS lässt mit ihren Erfolgen keinen Rekord ungebrochen. Ihre über viele Jahre spannende Diskografie enthält eine Vielzahl an Werken, die von Romanen, wissenschaftlichen Theorien, berühmten Gemälden und anderen kulturellen Schöpfungen inspiriert sind. Als Meisterwerk gilt das sechsminütige Musikvideo zu Blood, Sweat and Tears. In Anlehnung an den Roman Demian (Fischer-Verlag 1919) von Herrmann Hesse schildert das Video analog zu dem Inhalt des Romans und des Liedes das Bestreben der Mitglieder, einer Versuchung zu widerstehen. Durch verschiedene Gemälde, - u.a. Landschaft mit dem Sturz des Ikarus (1560) und Der Sturz der rebellierenden Engel (1562) von Pieter Bruegel dem Älteren - werden immer wieder Bezüge zur Geschichte des Ikarus hergestellt, der bekanntlich wegen seines Übermuts bei einem Flugversuch scheiterte und ins Meer stürzte. Doch es geht nicht nur um dessen missglückten Flugversuch, vielmehr wird die Gefahr der Gier und des grenzenlosen Ehrgeizes symbolhaft dargestellt. Auch anhand der zahlreichen biblischen Symbole wird der Kampf zwischen Gut und Böse eindrucksvoll vor Augen geführt. Die Grenzen zwischen Realität und Traum werden durch prachtvolle Filmkulissen, die von der Klassik, der Renaissance und dem Barock inspiriert sind, verwischt. Jedoch ist Blood, Sweat and Tears längst nicht das einzige Musikvideo, das eine Geschichte erzählt, indem es sich der unterschiedlichsten Vorlagen bedient. Besonders mit der Thematik von Gut und Böse, von Grenzen befassen sich viele Musikvideos. In ihrem Video Oh my God versuchen die Mitglieder der Girlgroup (G)I-DLE mit allen Mitteln, weltlichen Verlockungen zu widerstehen, allerdings nur mit bedingtem Erfolg. Dem Video liegen diverse Inspirationen zugrunde, u.a. die neun Kreise der Hölle aus Dante Alighieris Göttliche Komödie, auf welche durch die Bandmitglieder in individuellen Szenen angespielt wird. Obwohl es von der Gruppe nie explizit bestätigt wurde, lassen die weiblichen Pronomen im Liedtext eine gleichgeschlechtliche Beziehung vermuten. Diejenigen, die sich in eine Frau verliebt haben, werden als Sünderinnen und Opfer von Stigmatisierung dargestellt, da queere Partnerschaften in Korea weiterhin auf mangelnde soziale Akzeptanz stoßen. Dies wird besonders durch die düsteren Kulissen und dunklen Kleider zum Ausdruck gebracht. Hingegen werden die scheinbar heterosexuellen Mitglieder in dem Video als Personen gezeichnet, die viel Respekt erfahren und von den Menschen bejubelt werden, während sie sich als makellose Engel in weißen Gewändern präsentieren.



Ein Zitat von Friedrich Nietzsche im Video Blood, Sweat and Tears Quelle: HYBE LABELS, YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=hmE9f-TEutc, Minute 5:47

Viele Videos erzählen auch eine zusammenhängende Geschichte, die auf den Handlungen oder Szenen von einzelnen Filmen basiert. Bekannte Beispiele dafür sind What Do I Call You der Künstlerin Taeyeon und What Is Love? der Girlgroup Twice. Während ersteres Lied seine Inspiration aus dem Film Vergiss mein nicht (2004) bezieht und ein Liebespaar darstellt, das alle Erinnerungen voneinander löschen lässt, geht letzteres einen Schritt weiter und kombiniert ikonische Szenen aus verschiedenen Filmoeuvres. Es wird Bezug auf Filme wie Romeo & Julia (1996), Pulp Fiction (1994), La La Land (2016) und viele weitere genommen. Besonders die Nachstellung der Tanzszene aus Pulp Fiction hat durch ihre Kreativität für positive Resonanz gesorgt. In den letzten Jahren macht sich auch der Einfluss asiatischer Filme bemerkbar. So ist das Video Bittersweet von Mingyu und Wonwoo (Mitglieder der Boygroup Seventeen) sowohl visuell als auch in der Nachstellung seiner Handlung maßgeblich von Chungking Express (1996), einem Klassiker des Hongkong-Kinos, inspiriert. Die üppige, melancholische Ästhetik des Regisseurs Wong Kar-Wai diente auch dem Musikvideo 0X1=LOVESONG (I Know I Love You) der Boygroup TXT als Vorlage, insbesondere der Film Days of being Wild (1990). Wie der Filmtitel bereits vermuten lässt, dreht sich das Video um die sorglose und rebellische Jugend der Gruppenmitglieder. Zuletzt nahm das Musikvideo Lilac von der Künstlerin IU Bezug auf Oldboy (2003), einen unangefochtenen Klassiker des koreanischen Kinos. Denn die Szene, in welcher die Sängerin in einem Zugabteil gegen eine Handvoll Gangster kämpft, wurde der ikonischen Kampfszene des Films nachempfunden. Doch auch einzelne Stilmittel können sich durch das gesamte Musikvideo ziehen und den Verlauf maßgeblich bestimmen. Ein wiederkehrendes Motiv in K-Pop-Videos sind beispielsweise lange, mit opulenten Speisen gefüllte Esstische. Esstische gelten als Orte der sozialen Interaktion, an denen man zusammenkommt, um nach einem anstrengenden Tag gemeinsam Zeit zu verbringen. Besonders in der koreanischen Kultur existieren soziale Bräuche, die bei Tisch einzuhalten sind. Auch in K-Pop-Videos nehmen K-Pop-Stars, auch Idols genannt, fügsam und ausdruckslos an Tischen Platz. Doch dieser Eindruck täuscht, denn im nächsten Moment verwandelt sich der Tisch in einen Ort der Anarchie, des Protests oder sogar der Gewalt. Dies ist z.B. der Fall im Video Wannabe von Itzy, in dem Lia über den Tisch läuft und alles samt dem Essen und der prunkvollen Dekoration herunterschmeißt oder in Answer von Ateez, in dem ein Mann mit einer pompösen Maske und Schuhen auf dem Tisch tanzt. Interessant ist außerdem, dass Esstische dieser Form und Größe der westlichen Kultur entspringen. In der koreanischen Kultur hingegen wird entweder an kleinen Tischen oder auf dem Boden gespeist. Ob damit eine universellere Botschaft vermittelt oder doch Respekt gegenüber der koreanischen Kultur ausgedrückt werden soll, bleibt zu debattieren. In einem scheinbar so profanen Symbol steckt in der Welt des koreanischen Pop eine Vielzahl an Bedeutungen.



Sunmi durchläuft eine Trennung im kunterbunten Video Gashina Quelle: AroundUs Entertainment, YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=ur0hCdne2-s, Minute 3:20

Ein weiteres wiederkehrendes Element sind Badewannen, erneut ein Sinnbild, das auf den ersten Blick trivial erscheint. In K-Pop-Videos sind sie aber entweder ein Symbol der Transformation oder der Depression. In ihrem Video Gashina beispielsweise liegt Sunmi in einer Badewanne, die als Mittel für ihre Heilung nach einer schmerzhaften Trennung steht. Ähnlich ist es auch in Missing You von 2ne1, einer Girlgroup, die sich nach dem Video aufgelöst hat. Damit symbolisiert die Badewanne das Ende eines Lebensabschnitts und zugleich einen Neuanfang. Als Symbol für eine Depression findet sich eine Badewanne in zahlreichen BTS-Videos - von I Need U bis Run, wo sie als Zufluchtsort dargestellt wird. In dem Video All in der Boygroup Monsta X hingegen ist es bereits zu spät für emotionale Heilung, und zwei Mitglieder begehen Suizid in einer Badewanne. All diese Beispiele machen eines unverkennbar deutlich: Koreanische Popkultur bedient sich der unterschiedlichsten Inspirationsquellen, um ein ansprechendes und unvergessliches visuelles Erlebnis zu ermöglichen. Filme, Romane, Gemälde etc. fungieren als Vorlage, aber auch einzelne Symbole tragen viel Gewicht. Oft bilden die symbolisch aufgeladenen Videos nur den Bruchteil einer komplexen Geschichte, welche die Künstler:innen über mehrere Videos hinweg erzählen. Es steht außer Frage, dass sich die koreanische Popkultur stets weiterentwickelt und dabei kontinuierlich neue Konzepte und Inspirationen erschließt. Kreative Musikvideos sind dabei ein unverzichtbarer Bestandteil des Gesamtbildes geworden und werden weiterhin ein breites Publikum begeistern.  



SYMBOLISMUS IM K-POP | Koreanisches Kulturzentrum (kulturkorea.org)

Bild von Elif Koc

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Elif Koc

schloss ihr Bachelor-Studium in Koreanistik und Sinologie an der Ruhr-Universität in Bochum ab und belegt derzeit das Fach Politische Ökonomie Ostasiens als Master-Studiengang. Während ihres Studiums verbrachte sie insgesamt drei Semester an der Sogang University und an der Sungkyunkwan University in Seoul. Sie ist Ehrenberichterstatterin des Internetportals der koreanischen Regierung Korea.net und wird vom „Netzwerk junge Generation Deutschland-Korea” im Rahmen des Mentoringprogramms gefördert. Elif Koc interessiert sich insbesondere für politische und soziale Themen. Im Jahr 2022 absolvierte sie ein weiteres Auslandsstudienjahr in Korea.