Ausland

Kunst wird von und für Menschen gemacht. Was die Rollenverteilung dieser Menschen angeht, ist die Kunst jedoch oft klar in eine kunstschaffende und eine kunstkonsumierende Fraktion aufgeteilt.


In der europäischen Musiktradition war es lange üblich, Musizierende und Publikum zu trennen. Spätestens mit der Entwicklung der Instrumentalmusik- und Theaterkultur im 19. Jahrhundert etablierte sich das Bild einer klaren Rollenverteilung: Musik und Theater geschehen auf der Bühne und werden in der Regel von Künstler:innen ausgeführt, das Publikum auf separatem Raum hat lediglich eine beobachtende Funktion. Doch was, wenn auch der Zuschauerraum zum Teil des Kunstwerks wird? Was, wenn das Publikum selbst die Essenz einer künstlerischen Darbietung darstellt? Genau diese Dynamik macht Pansori aus.



null



by bdnegin (Brian Negin), CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons


Pansori ist ein traditionelles Genre der koreanischen Vokalmusik, dessen genauer Ursprung unbekannt ist und das im 17. Jahrhundert in der heutigen Form Fuß fasste. Pansori ist eine sehr ausdrucksstarke Kunstform, die Geschichtenerzählen, Gesang und Instrumentalmusik kombiniert und auf den authentischen Ausdruck des menschlichen Gefühls fokussiert ist. Die Authentizität von Emotionen und deren Ausdruck steht also über der Schönheit des Klangs sowie einer klaren, definierten Harmonik. Die drei Grundelemente einer Aufführung sind der Auftritt eines/er Sänger:in, genannt Gwangdae (광대), eines/er Trommler:in, genannt Gosu (고수), und eine charakteristische Fasstrommel, die Buk (북) genannt wird und den Takt angibt.


Die Auftritte können einige Stunden dauern und werden in der Regel von einzelnen Sänger:innen mit Trommel-Begleitung aufgeführt. Pansori-Aufführungen wurden von der UNESCO zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit erklärt und sind somit ein wichtiger Bestandteil der kulturellen Identität Koreas.


Einer der markantesten und wichtigsten Aspekte von Pansori-Aufführungen ist die Rolle der Zuschauenden. Im Gegensatz zu anderen Musikformen erfordert Pansori eine aktive Beteiligung des Publikums. Die Sänger:innen fesseln ihre Zuhörerschaft durch expressive Gesten, theatralische Gesichtsausdrücke und direkte Ansprache und ermutigen sie auf diese Weise, aktiv auf die Geschichte und die Musik zu reagieren.


Die Rolle des Publikums in Pansori ist vielfältig und komplex. Die Zuschauenden sind nicht nur dafür da, dem/der Sänger:in zuzuhören, sondern nehmen mit ihrer Präsenz aktiv an der Aufführung teil. Stimmliche Reaktionen und Interaktionen mit den Singenden sind wesentlich für den spezifischen volksnahen Charakter der Aufführung. Ohne ihr Publikum würde eine Pansori-Aufführung ihre Essenz und Energie verlieren.


Das Publikum in Pansori-Aufführungen spielt zudem eine entscheidende Rolle bei der Schaffung einer Atmosphäre von Energie und Dramatik. Die Zuschauenden geben dem/der Sänger:in Feedback durch stimmliche Reaktionen, so sind beispielsweise aufmunternde Rufe, genannt Chuimsae (추임새), Gelächter und Applaus seitens des Publikums ein fester Bestandteil der Aufführung. Insbesondere haben sich als Chuimsae einige spezifische Rufe etabliert, welche die Künstler:innen lobend ermuntern sollen, so beispielsweise „Eolsigu!“ (얼씨구) oder „Jalhanda!“ (잘한다). Diese Ausrufe sind in fast jeder Pansori-Performance seitens der Anwesenden zu hören und erzeugen eine angeregte Atmosphäre. Die Interaktion zwischen den Singenden und ihrer Zuhörerschaft sorgt für eine einzigartige und dynamische Darbietung, die so in keiner anderen Musikform reproduziert werden kann.


Sänger:innen im Pansori sprechen das Publikum oft direkt an, sie können ihm Fragen stellen, Witze machen oder es in eine Call-and-Response-Dynamik verwickeln. Dies schafft ein starkes Gemeinschaftsgefühl zwischen den Darstellenden und den Zuhörer:innen, da letztere so zu aktiven Teilnehmenden der erzählten Geschichte werden.


Eine weitere Möglichkeit, wie das Publikum an Pansori-Aufführungen aktiv teilnehmen kann, ist die Verwendung von sogenannten „Chören“. Dies sind sich wiederholende Sätze, die von den Sänger:innen gesungen und dann vom Publikum wiederholt werden. Die Chöre sind ein wesentlicher Bestandteil von Pansori, da sie dazu beitragen, ein Gefühl von Zusammengehörigkeit innerhalb der Aufführung zu schaffen. Sie bieten auch den anwesenden Gästen die Möglichkeit, am Geschehen teilzunehmen, selbst wenn sie mit der erzählten Geschichte nicht vertraut sind. Pansori basiert auf der Nacherzählung der ,5 Großen Erzählungen' (다섯 마당): Simcheongga (심청가), Sugungga (수궁가), Chunhyangga (춘향가), Heungboga (흥보가) und Jeokbyeokga (적벽가). Obwohl jede dieser Geschichten eine komplexe Handlung aufweist, ist es durch den sehr publikumsnahen Charakter von Pansori-Aufführungen dennoch gut möglich, den Inhalt anschaulich zu gestalten und die Zuschauenden in die Handlung einzubeziehen.


Das Publikum in Pansori besteht also nicht aus passiven, vom Bühnengeschehen getrennten, sondern aktiven Teilnehmenden, die als solches zum Teil der Aufführung werden. Sie beobachten die Aufführung nicht nur, sondern sollen vielmehr dazu beitragen. Ihre Energie und ihr Enthusiasmus können die Sänger:innen dazu inspirieren, ihr Bestes zu geben, und ihr Engagement kann zu einem unvergesslicheren und bewegenderen Erlebnis für alle Beteiligten führen. Die dynamische Entwicklung einer spezifischen Pansori-Aufführung ist also maßgeblich geprägt vom jeweiligen Publikum, was dafür sorgt, dass keine Aufführung der anderen gleicht.


Neben der aktiven Feedback-Funktion und der Teilnahme an der Aufführung spielt das Publikum in Pansori zudem auch eine entscheidende Rolle bei der Bewahrung der Kunstform. Pansori wurde über Generationen von Darsteller:innen und Publikum weitergegeben, doch nur durch die kontinuierliche Unterstützung und Beteiligung des Publikums kann die Kunstform überleben. Da die Rezipient:innen grundsätzlich ein Teil des Kunstwerks sind, ist eine Bewahrung von Pansori ohne Publikum also nicht möglich.


Das Publikum in Pansori trägt auch dazu bei, die kulturelle Bedeutung der Kunstform sicherzustellen. Pansori kann als ein äußerst volksnahes Genre verstanden werden, das schon immer auf der Beteiligung des Volkes aufbaute. Die enge Beziehung von Kunst und Mensch sorgt hierbei dafür, dass jede Entwicklung der koreanischen Gesellschaft auch indirekt einen Einfluss auf die Entwicklung der Kunstform Pansori hat. Einfach ausgedrückt wirkt sich die Stimmung im Volke somit auf den künstlerischen Charakter der Darbietungen aus. Pansori als Kunstform kann somit als wichtiger Bestandteil der koreanischen kulturellen Identität verstanden werden, da es bereits seit Jahrhunderten die Stimmung des koreanischen Volkes in künstlerischer Form widerspiegelt. Ohne das Publikum würde die kulturelle Bedeutung von Pansori geschmälert und drohte, verloren zu gehen.


Darüber hinaus geht die Rolle des Publikums über die unmittelbare Aufführung hinaus. Die einmalige Energie der Interaktion und der Enthusiasmus der Rezipient:innen, die den Aufführungen Charakter verleihen, können dazu beitragen, auch zukünftig Künstler:innen und Zuschauer:innen zu inspirieren, die Kunstform weiter auszuführen und so sicherzustellen, dass Pansori für kommende Generationen ein wichtiger und relevanter Teil der koreanischen Kultur bleibt.


Die Zuschauer:innen spielen also eine entscheidende Rolle bei Pansori-Aufführungen. Ihre aktive Teilnahme und ihr Feedback sind unerlässlich, um eine einzigartige und dynamische Darbietung zu schaffen, die in dieser Weise in keiner anderen Musikform reproduziert werden kann. Ohne das Publikum würden Pansori-Aufführungen ihre Vitalität und Energie einbüßen. In gewisser Weise zeigt Pansori uns, dass der Mensch für die Ausführung, Verbreitung und Weitergabe von Kunst unerlässlich ist und in sich selbst künstlerischen Wert trägt. Jede Person, die eine Pansori-Aufführung besucht, kann so erfahren, dass ihr eigener Wert über das Körperliche hinausgeht. Teil eines Kunstwerks zu werden, zeigt uns so eine neue Ebene des Seins auf: das Ich als Teil eines Ganzen, die Kraft der Gemeinschaft und die Erfahrung, selbst zur Erhaltung und Weitergabe von Kultur beitragen zu können.


Wer neugierig auf eine solche spannende Erfahrung ist, sollte sich eine Pansori-Aufführung nicht entgehen lassen!


Zum Autor: 


null



Foto: privat 


Paul Stephan studierte Koreanistik und Musikwissenschaft an der Universität Tübingen und der Seoul National University. Er beschäftigte sich im Studium sowie privat mit der traditionellen koreanischen Musik und erlernte in Südkorea unter anderem die Gesangsform Pansori.