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SEJONG DER GROSSE – DER GELEHRTE STAATSMANN AUF DEM PHÖNIXTHRON

Statue von König Sejong

Statue von König Sejong nahe des Gwanghwamun


Wer in Seoul vom Gwanghwamun-Tor (광화문) den Weg über die Sejong-Avenue nimmt, gelangt zum prächtigen Gwanghwamun-Platz, wo zwei große Statuen den Blick auf sich ziehen: der sitzende König Sejong (세종대왕) mit einem aufgeschlagenen Buch in der linken Hand – am Sockel befinden sich die 28 Zeichen des Hangeul, wie es in seiner ursprünglichen Form bestand – und der stehende General Yi Sun-sin (이순신, 1545-1598). Das moderne Hangeul weist 19 Konsonanten (14 Grundkonsonanten und 5 Doppelkonsonanten) und 21 Vokalen auf, von denen 10 Grundvokale und 11 zusammengesetzte Vokale sind. Yi Sun-sin war der militärische Held, der mit Horatio Nelson verglichen wird. König Sejong (1397-1450) dagegen war der Humanist, dessen Interesse und Bemühungen sich auf die Menschen konzentrierten und deren Leben er durch kulturelle, intellektuelle und technische Innovationen verbesserte. Das diente nicht nur der Stabilisierung der neuen Joseon-Dynastie (1392-1910) – das Herrschergeschlecht entstammte dem Yi-Clan aus Jeonju und dessen letztes Oberhaupt ist z.Zt. Yi Seok [1] –, sondern grenzte auch die kulturelle Identität Koreas von der Chinas ab.


Sejong wurde am 15. Juni 1397 als 3. Sohn von König Taejong (태종, 1400-1418) als  Yi Do (이 도) geboren. Sein Aufstieg zum Thronfolger war einzigartig und hatte wohl damit zu tun, dass er das Studium der chinesischen Klassiker sehr ernst nahm, sich in Kalligrafie übte und darüber hinaus die Instrumente Gayageum und Geomungo spielte. Chinesische Klassiker wie das Zuozhuan (Kommentar des Zuo [zu den Frühlings- und Herbstannalen]) oder das Chuci (Elegien aus Chu) soll er einhundertmal gelesen haben, weshalb Taejong aus Angst um die Gesundheit des Sohnes ihm die Bücher wegnahm. Der Staatsrat beschrieb den Prinzen wie folgt: „Er ist respektvoll zu seinen Eltern und liebevoll zu seinen Brüdern und Schwestern. Er ist warmherzig und menschlich. Er liebt das Lernen und verbummelt nicht seine Zeit. Sein Charakter eignet sich für das Amt eines Kronprinzen.“ Sejong wurde zum Kronprinzen ernannt, sein Vater dankte ab und Sejong wurde König, bestieg am 10. August 1418 (Sejong sillok 1418/08/11) den Phönixthron (eojwa, 어좌), und seine Ehefrau wurde zur Königin Gongbi (공비) gekrönt. Sie gebar dem König zehn Kinder und wurde posthum als Königin Soheon (소헌왕후, 1395-1446) zu einem Vorbild unter den Königinnen. Der Wille zum Lernen sollte das gesamte Leben des Königs prägen, daher auch die Teilnahme an den täglichen Gyeongyeon, d.h. den wissenschaftlichen Vorträgen und Diskussionen über konfuzianische Schriften.


Kind bestaunt die Statue König Sejongs

Kind bestaunt die Statue König Sejongs

Ein Kind bestaunt die Statue von König Sejong

Die eigentliche Regierung Sejongs begann jedoch erst 1422 nach dem Tode des Vaters, da dieser noch als „zurückgezogener König“ die Regierungsgeschäfte mitbestimmte. Danach begann die Zeit der Konsolidierung des Staates, suseonggi (수성기), d.h. die Suche nach dem rechten Weg, jeongdo (정도). Leitendes Prinzip des Handelns des Herrschers sollte nach Jeong Dojeon (정도전, 1342-1398) die öffentliche Meinung, gongnon (공론 ), sein — ein Begriff, der in den Annalen der Joseon-Dynastie 1001 Mal angeführt wird. Denn mit der Stimme des Volkes ist das „Mandat des Himmels“ verknüpft, jene alte chinesische Rechtfertigung von Machtergreifung, der sich auch der Begründer der Joseon-Dynastie, der General Yi Seonggye (이성 계) und  spätere König Taejo (태조, 1335-1408), bedient hatte, gilt doch seit Mengzi: „Der Himmel sieht wie das Volk sieht, der Himmel hört wie das Volk hört“. Dem Herzen des Volkes aber – so Sejong bei der Thronbesteigung – entsprechen tiefe Menschlichkeit und große Wohltaten.


Außenpolitisch musste der junge König zwei Probleme lösen: Sein Vater hatte zwar die von der Insel Daema/Tsushima aus agierenden japanischen Waegu (Piraten, 왜구), militärisch geschlagen, aber erst Sejong konnte 1422 den Sō-Klan der Insel – im Austausch gegen Handelsrechte – zu einer Kontrolle der Piraten bewegen. Im Norden musste er dagegen Krieg gegen die kontinuierlichen Invasionen der Jurchen-Stämme führen. Wie schon in der Expedition gegen die Piraten erwies sich die auf den Erfindungen von Choe Museon (최무선, 1325-1395) beruhende Waffentechnik wie Kanonen und die berühmte Singijeon-Rakete („die göttliche Waffe“, 신기전) überlegen. Nach der Schlacht am Pajeo-Fluss 1433, einer weiteren Militäraktion 1437 und dem Angebot einer Integration in die koreanische Gesellschaft konnte die nördliche Grenze gesichert werden; der Yalu ist bis heute der Grenzfluss im Norden. Später wurden neue Waffen entwickelt wie z.B. die berühmte Hwacha („Feuerwagen“, 화차), eine mobile Raketenabschussrampe für 100 Singijeon.


Das Werk der Gründer der Joseon-Dynastie wollte Sejong fortsetzen; mit dem Namen „Joseon“ hatte König Taejo an die uralten Traditionen von Dangun und Gija [2] angeknüpft. Zwar hatte Taejo bereits die neokonfuzianische Schule des Zhu Xi (朱熹, korean. Ju Hui, 주희, 1130-1200) zur Staatsideologie erklärt, aber es bedurfte von Seiten Sejongs noch zahlreicher Reformen, um diese im Land zu etablieren. In der Folgezeit sollte Korea wie wohl kein anderes Land in Ostasien vom Neokonfuzianismus geprägt werden.


Schon bei der Thronbesteigung sprach Sejong von „ye“ (예), d.h. von gutem Benehmen, Etikette und ritueller Korrektheit. Ye ist nur zu verstehen im Kontext der neokonfuzianischen Vorstellung des Universums: Das himmlische Prinzip oder Ordnungsprinzip aller Einzeldinge ist i (이), das sich oberhalb der physikalischen Gestaltungsebene befindet und der materiellen (Wirk-)Kraft gi (기) inhärent ist. Im Kontext dieses Weltbildes gilt ye dann auch als Manifestation des himmlischen i und folglich als geeignetes Erziehungsinstrument, die Gesellschaft in eine Harmonie mit dem Universum zu bringen. Dazu gehören fundamentale Strukturen der Gesellschaft wie die „Drei Beziehungen“, samgang (삼강), die eine soziale Hierarchie aufbauen und von den „Fünf moralischen Imperativen“, oryun (오륜),  verstärkt werden. Samgang bezieht sich auf die Bindungen zwischen Herrscher und Untertan, Vater und Sohn, Mann und Ehefrau. Der Vatermord Kim Hwas 1428 war für Sejong der Anlass, das Samgang Haengsildo (Illustrierte Anleitung für die drei Beziehungen, 삼강행실도) in Auftrag zu geben, das 1434 gedruckt wurde. Dem Text waren Illustrationen beigefügt, aber dem König war klar, dass dennoch das Volk die Geschichten wegen der chinesischen Zeichen nicht lesen und daraus Nutzen gewinnen konnte. Dieses Problem sollte erst 1446 mit der Erfindung des koreanischen Alphabets Hangeul gelöst werden. Ordnende Strukturen in diesen Beziehungen waren die Rituale: die Familienrituale, garye (가례), und die „Fünf nationalen Riten“, orye (오례). Erstere waren die Hausriten des Zhu Xi: Riten des Erwachsenwerdens, der Eheschließung, der Beerdigung sowie die Opferriten für die Ahnen; sie wurden 1426 Bestandteil der Examina. Die nationalen Riten umfassten u.a. Zeremonien für den königlichen Ahnenschrein, nationale Trauer und Rituale für den Hof, aber auch Gebete für Regen. 1444 wies Sejong die Beamten an, diese zusammenzufassen, die endgültige Fassung von 1451 enthielt dann auch des Königs eigene Ansichten zum Thema.


Der Thronraum des Königs

Der Thronraum des Königs

Gyeongbokgung - der Thronraum König Sejongs

Im Goryeo-Reich (918-1392) war der Buddhismus die dominante Religion gewesen, aber in der Spätphase gab es bereits eine antibuddhistische Haltung der Intellektuellen. Die von Sejong gegründete Jiphyeonjeon („Akademie der versammelten Weisen“, 집현전) übte 1424 schwere Kritik an den „heterodoxen Lehren“ des Buddhismus. Die Literati verwarfen insbesondere die buddhistischen Lehren über die Welt nach dem Tode, weshalb es eine lebenslange Kritik der Beamten an Sejong gab. Zwar hatte er – wie seine Vorgänger – den Zugang zum Mönchtum erschwert und Teile des Tempellandes und Sklaven enteignet, aber er war kein Feind des Buddhismus – wie schon vor ihm der Dynastiegründer Taejo, der  den Mönch Muhakdaesa (무학대사, 1327-1405) zu seinem persönlichen Berater ernannt hatte. Sejongs Verbot von Mönchsprozessionen in der Hauptstadt von 1422 führte dazu, dass Mönche diese bis ins späte 19. Jahrhundert nicht betreten durften, dennoch wurde zu besonderen Anlässen am Han-Fluss das buddhistische Suryukjae („Wasser-Land-Ritual“, 수륙재) durchgeführt, so z.B. 1432 unter Leitung seines zweiten Bruders, des Prinzen Hyoryeong (효령 대군), der buddhistischer Mönch geworden war. Einen buddhistischen Schrein ließ er für seinen persönlichen Gebrauch im Palast errichten und nach dem Tode seiner Gemahlin Königin Soheon 1446 gab König Sejong in einer Anzahl von Tempeln buddhistische Rituale in Auftrag und verfasste zu ihrer Erinnerung 1447 sogar das epische Leben Buddhas Der Mond gespiegelt in tausend Flüssen (s.u.). Seinen Kritikern hielt er später entgegen: „Bevor ich König wurde, liebte ich bereits den Buddhismus“. Das hatte ihn aber nicht davon abgehalten, 1424 eine grundlegende Reform des Buddhismus durchzuführen. Die vielen Schulen verteilte er auf zwei Gruppen: Seonjong (Zen-Schule, 선종) und Gyojong (Schule der Doktrinen, 교종); beide Gruppen erhielten jeweils 18 Tempel mit Land zugewiesen. Daoismus und mudang-Riten – die altkoreanische Religion mu (무) oder mugyo (무교) – galten als illegale und sittenwidrige Riten, obgleich es einen offiziellen daoistischen Tempel in Hanseong (heute Seoul) gab und die mudang (무당) [3]  bei Fürbitten um Regen und bei der Behandlung von Krankheiten zugelassen war. Erst 1443 wurde letztere aus der Hauptstadt verwiesen und ihre Riten unter Verbot gestellt (Sejong sillok 1443/08/25). Nachhaltig war das Verbot nicht, da die mudang-Riten wie auch der Buddhismus fester Bestandteil des Volksglaubens waren und immer noch sind. Denn letztendlich konnte der Konfuzianismus, der kein Leben nach dem Tode kennt, keine metaphysischen Bedürfnisse befriedigen. Zudem unterstützten die Ming-Herrscher, deren Vasall Korea war, den Buddhismus. Nachhaltig war letztlich nur das Dekret vom 4. April 1427, mit dem Sejong – auf Verlangen des „Amtes für Riten“ den Islam — die Religion der „Hoehoe“ (회회, chin. 回回, huihui, d.i. die muslimische Hui-Ethnie Chinas) – unter Verbot stellte, wohl auch wegen ihrer Lehren über die Welt nach dem Tode.


Administration und Recht wurden vom König ebenfalls reformiert. So wurden die 1397 in Kraft gesetzten „Sechs Verwaltungsgesetze“ 1413 in überarbeiteter Form als Sok Yukjeon (Die ergänzten sechs Gesetze, 속육전)  von ihm einer 15 Jahre währenden  Revision unterworfen und 1435 veröffentlicht. Auch das Strafrecht wurde reformiert: Das Auspeitschen wurde 1430 untersagt und bei Kapitalverbrechen die Möglichkeit einer dreifachen Berufung an den König geschaffen. Täter unter 15 und über 70 Jahre sollten nicht mehr – sofern kein Raub oder Mord vorlag – eingesperrt werden; bei einem Alter unter 10 oder über 80 Jahren sollte auch selbst bei Kapitalverbrechen keine Haft mehr verhängt werden. Mit dieser Festlegung war Sejong zweifellos seiner Zeit weit voraus, wenn wir an unser heutiges Strafrecht denken! Das grundlose Töten von Sklaven wurde 1430 unter Bestrafung gestellt, verstieß es doch gegen die Mitmenschlichkeit, in (인). 1444 wandte er sich noch einmal gegen das Töten eines Sklaven, der zwar von niedriger Geburt war, aber dennoch aus dem Volk stammte und vom Himmel gegeben war, und untersagte die in Familien geübte richterliche Gewalt. Die Mitmenschlichkeit des Herrschers gestattet nicht zuzuschauen, wenn unschuldige Menschen getötet werden. Der König erwies sich damit als ein Weiser, der die Aussagen der „Westinschrift“ des Zhang Zai, koreanisch  Jang Jae (장재, 1020-1077) – es handelt sich hierbei um einen fundamentalen Text des Neokonfuzianismus – als Herrscher ernst nimmt: „Was … Himmel und Erde ausfüllt, sind unsere Körper, und was Himmel und Erde leitet, sind unsere Wesensnaturen. Alle Menschen sind darum unsere Brüder, und alle Dinge sind mit uns verbunden.“ (Übers.Wolfgang Ommerborn). Sejong sah das Volk in seiner Gesamtheit wie folgende Maßnahmen zeigen: 1430 Beurlaubung einer schwangeren Bediensteten der Regierung  einen Monat vor der Entbindung und Beurlaubung danach für 100 Tage, 1434 Beurlaubung des Ehemannes für 30 Tage nach der Geburt, 1432 Zulassung der Söhne einfacher Leute an den Landesschulen Hyanghak (향학), Festessen für Senioren beiderlei Geschlechts, denn „die Alten zu ehren, ist eine schöne Aufgabe eines Landes“ (1433). Sein Grundsatz war: „Das gewöhnliche Volk ist das Fundament eines jeden Landes. Nur wenn dieses Fundament stark ist, ist das Land stabil und wohlhabend.“


Zum neuen Kriminalrecht gehört nun auch die Autopsie; auf der Grundlage des ersten Handbuches der Rechtsmedizin des Chinesen Song Ci (宋慈, 1186-1249) ließ Sejong 1439 diesbezüglich ein zweibändiges Regelwerk drucken und an alle Justizbehörden verteilen. Ein weiteres großes Gesetzesvorhaben war die Steuerreform. Wurden bislang nach chinesischem Vorbild Ernteschäden von Inspektoren bewertet – oft zum Nachteil der Bauern –, führte er 1427 ein Abgabengesetz gongbeop (공법) ein, wonach die Abgaben aufgrund der Ernteergebnisse ausgewählter Jahre ermittelt wurden. „Grundlage einer guten Regierung ist“ – so der König  – „die Liebe des Herrschers zu seinem Volk. Diese Liebe zeigt sich in den Arten rechtlicher Institutionen, die der Herrscher errichtet.“. 1430 startete eine nationale Umfrage unter den Bauern und Hofbeamten, um die öffentliche Meinung (gongnon) zu erkunden. Nach langen Jahren der Diskussion wurde das Gesetz ab 1444 sukzessive auf das ganze Land ausgedehnt.


Viele Reformen trug Sejong den etwa 20 Mitgliedern des Jiphyeonjeon auf, die er persönlich aus den Absolventen der  konfuzianischen Akademie Seonggyungwan (성균관) aussuchte. Dies war bereits eine Art Denkfabrik, die dem König nicht nur in der Verwaltung und bei seinen Aufgaben half,  sondern auch für die Herausgabe wichtiger Werke zuständig war: 1429 erschien Nongsa jikseol (Geradeherausgespräch über die Landwirtschaft), 1431 Taejong sillok (Die wahrheitsgemäßen Aufzeichnungen über König Taejong) und Paldo jiriji (Geografische Beschreibung der Acht Provinzen), 1433 Hyangyak jipseongbang (Kompendium einheimischer Rezepturen) und 1434 die schon erwähnten Samgang Haengsildo. 1443 begann unter Sejongs Leitung die Kompilation Uibang yuchwi (Klassifizierte Sammlung medizinischer Rezepte), die 1445 mit 365 Bänden fertiggestellt, aber erst 1477 veröffentlicht wurde. 1446 folgte Hunmin jeongeum haerye (Erklärungen und Beispiele für die korrekten Laute zur Belehrung des Volkes), der Kommentar zum Hunmin jeongeum (Belehrung des Volkes in den richtigen Lauten), (s.u.). 1447 wurde Donggug jeongun (Die korrekten Laute im Ostreich) veröffentlicht, gefolgt 1450 von Goryeosa (Geschichte Goryeos).


König Sejong war ein enthusiastischer Förderer von Wissenschaft und Technologie. So wurde der von Kronprinz Yi Hyang (이향) 1442 erfundene Niederschlagsmesser Cheugugi (측우기) zum Standard für alle Provinzen. Aus dem Paldo jiriji wurde u.a. der Schluss gezogen, dass „der [koreanische menschliche] Körper und das [koreanische] Klima nicht verschieden sind“ und sich deshalb von China unterscheiden. Die Errichtung des „Königlichen Oberservatoriums“ 1432-1438 hatte ein Handbuch für Kalenderberechnungen zum Ziel, die sich nach der exakten geografischen Lage Hanseongs (s.o.) richteten. Wer das „Mandat des Himmels“ empfangen hatte, musste auch akkurat die Zeit messen können. Der aus einfachen Verhältnissen stammende geniale Ingenieur Jang Yeongsil (장영실,  1390?-1450?) konstruierte u.a. 1433 die automatisch die Zeit angebende Borugaknu („Die tönende Palast-Klepsydra [Wasseruhr]“, 보루각누), die ab 1434 als Standarduhr des Königsreichs diente, und 1437 die Heumgyeonggaknu („Die tönende Klepsydra des Pavillons der respektvollen Verehrung“, 흠경각누), welche für den König bestimmt war. Mit der Borugaknu hatte Sejong das Ziel erreicht, das den konfuzianischen Herrscher auszeichnet: die eigene Zeitbestimmung!


Hunmin jeongeum

Die Schrift Hunmin jeongeum

In seiner Politik setzte Sejong zweifellos nationale Akzente, und das wird ganz besonders deutlich an der Erfindung der koreanischen Alphabetschrift, die heute als Hangeul (한글) bekannt ist: die „eine und große Schrift des Han-Volkes“. In den Sejong sillok (Annalen des Königs Sejong) findet sich (1443) die Notiz, dass der König eine Schrift mit 28 Buchstaben erfunden hat, die einmal als Eonmun („Niedere Schrift“, 언문) und dann als Hunmin jeongeum (s.o., 훈민정음) bezeichnet wird (1443/12/30). Das Hunmin jeongeum ist ein Grundtext mit einer Liste der Buchstaben und der damit verbundenen Laute, für deren Begründung er anführt: „Es gibt viele einfache Menschen, die ihr Ansinnen nicht ausdrücken können, weil man sich in der [chin.] Schrift nicht gut verständigen kann und weil unsere Landesprache von der Chinas verschieden ist. Das fand ich sehr bedrückend und schuf deshalb 28 neue Buchstaben. Und so hoffe ich, dass jeder sie leicht erlernt, und sie im täglichen Gebrauch Erleichterung schaffen“ (Übers. Franz/Itschert; Sejong sillok 1446/09/29). Dazu gibt es die allerdings erst 1940 entdeckten Erläuterungen Hunmin jeongeum haerye (s.o.),  die von großer Wichtigkeit sind, verweist doch der Anfang der „Erklärung zu der Form der Buchstaben“ unverkennbar auf das Yijing, (Buch der Wandlungen, Yeokkyeong, 역경): „Der Weg von Himmel und Erde ist identisch mit Yin und Yang sowie den Fünf Wandlungsphasen. Zwischen Anfang und Ende ist das Urprinzip... Alles Leben zwischen Himmel und Erde ist unvorstellbar ohne Yin und Yang. Deswegen herrscht auch in den Lauten der menschlichen Sprache das Gesetz von Yin und Yang ... Die Erstellung der ,Richtigen Laute’ war von Anfang an keine Sache der Weisheit und Kraft, es wurde lediglich das diesen Lauten innewohnende Gesetz ergründet.“ (Übers. Albrecht Huwe). Dieser philosophisch-kosmologische Hintergrund fügt sich ein in das neokonfuzianische Gesamtbild.


Über das Jinsilu (Aufzeichnungen des Nachdenkens über Naheliegendes, Geunsarok, 근사록) wurde bereits 1418 in den Königlichen Vorlesungen referiert. Diese Anthologie, die gleichsam eine Summe von 1600 Jahren Konfuzianismus ist, beginnt mit Zhou Dunyis (Ju Doni, 주돈이, 1017-1073) Erläuterung zum Taiji (太極 , daegeuk,  태극). Gemeint ist damit das bekannte Kosmogramm des Ursprungs, das basierend auf dem Yijing alle Phänomene der Welt auf ein höchstes Prinzip zurückführt. Grundlegend sind die alternierenden Prozesse von Bewegung und Ruhe, die Veränderung und Vereinigung von Yin und Yang sowie die „Fünf Wandlungsphasen“. Hieran schließt die Lautlehre des Hunmin jeongeum offenbar an, denn im Hunmin jeongeum haerye wird ausgeführt, dass die Anfangslaute die Funktion haben, eine Bewegung in Gang zu setzen, was eine Sache des Himmels ist, während die Endlaute die Bewegung beenden, was Aufgabe der Erde ist. Die Mittellaute (Vokalbuchstaben) – in ihnen sind Yin und Yang und die „Fünf Wandlungsphasen“ enthalten – verbinden erstere mit der letzteren, um den Laut zu vervollständigen; das ist nun Sache des Menschen. Die grafische Form der fünf Grundkonsonanten entspricht der Form der Lautbildung, während die Vokale aus drei Grundstrichen zusammengesetzt sind und die kosmologische Trinität Himmel, Erde und Mensch repräsentieren. Ferner besteht zwischen den 28 Buchstaben eine hochgradige Systematik, insofern Grundbuchstaben geschaffen und aus diesen dann die übrigen Buchstaben hergeleitet werden. Dem Hangeul liegen also zweifellos wissenschaftliche und eigenschöpferische Prinzipien zugrunde. Diese einzigartige Schrift kennt keine Vorläufer sondern ist eine Schöpfung des Königs Sejong, der sich eingehend mit Phonologie beschäftigt hatte. Auf die Kritik des Vizedirektors des Jiphyeonjeon, Choe Manri (최 만리, ?-1445), dass z.B. die Form der Zeichen auf demselben Prinzip wie die chinesische Siegelschrift beruht, erwiderte Sejong, dass die Phonetik völlig verschieden sei. Die Phonologie der chinesischen Zeichen läge im Argen und wenn nicht er, wer anders sollte die Korrektur vornehmen? Seit König Taejo (1335-1408) gab es ein „Büro für Übersetzung“, das sich mit Chinesisch, Japanisch, Mongolisch und anderen Sprachen beschäftigte. Von daher war bekannt, dass die Japaner seit dem 5. Jahrhundert die Kana-Silbenschriften entwickelt hatten, um die Aussprache der chinesischen Zeichen zu erleichtern. Allerdings sind die Silben des Hangeul, obgleich in „syllabographischen Clustern“ (Albrecht Huwe) angeordnet, eher ein Alphabet, bei dem Einzelteile Merkmale der Laute repräsentieren. Dies ist einzigartig in der Welt der Schriftsysteme! Sejong hat mit Hangeul ein Schriftsystem der Landessprache entwickelt, das nicht nur ein Instrument für die Bildung des Volkes war, sondern auch den Weg für soziale Statusveränderungen vorbereitete.


König Sejo

Historische Abbildung von König Sejo, Sohn König Sejongs

Zu Lebzeiten Sejongs  wurden vor allem zwei Werke in Hangeul verfasst: Die Yongbieochonga (Oden der zum Himmel fliegenden Drachen, 용비어천가), deren Erstellung einer Gruppe von Gelehrten übertragen worden war, wurde im Februar 1447  mit einer chinesischen Übersetzung publiziert. Die Oden stellen die Geschichte Haedongs („Östlich des [Gelben] Meeres“, d.i. Korea) als einen Prozess sich erfüllender Prophetie dar: Der Aufstieg der Joseon-Dynastie war schon lange vorhergesagt und entsprach dem Willen des Himmels. Insofern war die Revolution des Yi Seonggye gegen Goryeo kein widerrechtlicher Akt, vielmehr verwirklichte er den zentralen konfuzianischen Wert des ren, korean. in (인, 仁 ) : moralische Güte, sittliche Normen, Recht und Geradlinigkeit. Die sechs Drachen, die durch den Himmel fliegen und Glück verheißen, sind neben Yi Seongyge und seinen vier Vorfahren auch der Vater Sejongs, König Taejong. Die letzten Oden 110-125 enthalten Ermahnungen an Sejong und seine Nachfolger: Sejong setzt zwar die Drachenlinie fort, hat doch der Ming-Kaiser Yingzong (reg. 1435-1449 und 1457-1464) ihm 1444 eine Drachenrobe und einen Jade-Gürtel geschenkt, aber er wird vor den „perversen Theorien der Barbaren des Westens“ (= Buddhismus) gewarnt. Dies war zweifellos eine deutliche Kritik an Sejongs Verhältnis zum Buddhismus! Die musikalische Vertonung der Oden in vier Versionen sind den Sejong sillok beigefügt und zwar in einem einzigartigen Notationssystem Jeongganbo ( 정간보), das bis dahin in Ostasien nicht bekannt war. Da Sejong selbst Komponist war, könnte diese neue Notation von ihm stammen.


Nach dem Tod von Königin Soheon beauftragte er seinen zweiten Sohn, den Großprinzen Suyang (수양대군, 1417-1468), der als König Sejo (세조) von 1455-1468 regieren sollte, eine Kompilation des Lebens Buddhas herauszugeben: das Seokbosangjeol (석보상절). Dieses wurde 1447 in Hangeul mit neu entwickelten Messing-Lettern („Gabinja”) gedruckt.  Das Drucken mit beweglichen Lettern wurde von Sejong gefördert, war aber schon 1234, also lange vor Gutenberg, in Korea bekannt. Das Seokbosangjeol war eine Bitte um eine friedvolle Ruhe für die verstorbene Königin und Mutter.

Beim Lesen war der König so bewegt, dass er selbst das Leben Buddha Gautamas 1447 in Verse setzte: Mit dem Weorincheongangjigok (Der Mond gespiegelt in tausend Flüssen, 월인천강지곡)  erhoffte er für seine verstorbene Ehefrau ein gutes Leben nach dem Tode. Die Erzählung – von den drei ursprünglichen Bänden ist nur der erste erhalten, den Werner Sasse und An Jung-Hee übersetzt haben – wurde als musikalisches Werk geschaffen und fand Verwendung bei königlichen Zeremonien und Banketten. Das Werk ist besonders wertvoll, weil in hervorragender Weise die Effizienz des neuen Schriftsystems Hangeul bewiesen wird.


Sejongs Werk knüpfte an die chinesische Tradition an, Gesänge für Buddha mit Musik zu verbinden. Nach der Inthronisation hatte er vom Gesandten des Ming-Herrschers ein Exemplar des Gesangs für die Namen [Buddhas] ( 명칭가곡) erhalten. Der König begann, sich eingehend mit Musik zu beschäftigen, hat doch schon Kongzi gesagt: „Die Lieder erheben den Menschen, die Riten geben ihm Halt, die Musik macht ihn vollkommen“.  Im Herbst 1430 studierte er Cai Yuandings Eine neue Studie über musikalische Notationen  aus dem Jahre 1187 und beauftragte Jeong Inji ( 정 인지, 1396-1478) und den großen Musikologen Pak Yeon ( 박연, 1378-1458) mit der Reform der Ritualmusik. Der König wünschte eine konfuzianische Musik für königliche Audienzen und Opferriten. Pak Yeon gelang es, den Grundton für die koreanische Hofmusik zu berechnen und Stimmpfeifen zu bauen.

Dann wurden auf der Grundlage von Lin Yus Musik für den konfuzianischen Schrein (daeseonghakbo, 대성악보, 1349)  12 Melodien ausgewählt, überarbeitet und für Ahnenopfer benutzt; davon werden noch heute zwei in überarbeiteter Form beim halbjährlichen Opferritual für Kongzi verwendet. Für die Verehrung der Ahnen im königlichen Ahnenschrein, dem Jongmyo (종묘), hatte Sejong bereits 1425 entschieden, dass die chinesische Musik nicht passend wäre, sondern die einheimische Musik Hyangak ( 향악). 1447 komponierte er selbst u.a. zwei Stücke, die bis heute bei den königlichen Ahnenritualen (Jongmyojerye, 종묘제례) im Mai eines jeden Jahres gespielt werden: Botaepyeong (Den großen Frieden aufrechterhalten, 보태평) und Jeongdae-eop (Eine große Dynastie gründen, 정대업).


Infolge einer Diabeteserkrankung Sejongs, verbunden mit dem Verlust seines Sehvermögens, übernahm ab 1442 der ebenfalls nicht gerade gesunde Kronprinz Yi Hyang, der als König Munjong (문종) die Nachfolge antreten sollte, mehr und mehr die Regierungsgeschäfte. Am 18. April 1450 starb der König und wurde in dem Yeong-Mausoleum der verstorbenen Gattin in Neungseo-myeon beigesetzt.  In der Todesnacht von Sejong ließen seine Konkubinen – wie es seit langem der Brauch war – das Haar abrasieren und wurden zu buddhistischen Nonnen. Posthum lautete Sejongs Name: Großer König von imposanter Weisheit mit glänzender Kultur, militärischer Weisheit, ein menschlicher Weiser und ein leuchtendes Beispiel für Respekt gegenüber den Eltern (세종장헌영문예무 인성명효대왕). Auch wenn in der Geschichte Koreas Gwanggaeto ( 광개토대왕, 374-413) ebenfalls als  großer König gilt, so war Sejong der größte Herrscher der Joseon-Dynastie. Das von ihm geschaffene Alphabet wurde im Zuge der Gabo-Reformen 1894 offizielle Amtsschrift, die der Linguist Ju Sigyeong ( 주시경, 1876-1914) 1913 als „Hangeul“ bezeichnete. Der „Hangeul-Tag“ am 9. Oktober in Südkorea und am 15. Januar in Nordkorea erinnern an König Sejongs einzigartige Leistung; seit 1997 gehört das Hunmin jeongeum zum Weltdokumentenerbe der UNESCO. Zahlreiche Einrichtungen wie z.B. Sejong-Stadt, die König-Sejong-Station in der Antarktis, die Sejong University in Seoul oder die über 160 König-Sejong-Institute (세종학당), welche die koreanische Sprache und Kultur weltweit repräsentieren, erinnern an Sejong. Während des 4. Königlichen Kulturfestivals 2018 in Seoul wurde an die Thronbesteigung Sejongs vor 600 Jahren erinnert. Zweifellos gehört dieser koreanische Herrscher aufgrund seiner herausragenden Leistungen zu den großen Gestalten der Weltgeschichte.

 

Hinweis:

Die Sejong sillok sind im Internet zugänglich unter: Veritable Records of the Joseon Dynasty (Joseon wangjo sillok): >http://sillok.history.go.kr/main/main.do<, Chinesisch und Koreanisch, chronologisch geordnet nach Jahr, Lunarmonat und Tag.

 


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[1] Yi Seok (이 석), geb. am 30.08.1941 im Sadong-Palast in Seoul, ist der letzte Anwärter auf den erloschenen Kaiserthron Koreas. Sein Leben war außerordentlich schwierig – in den 1960er Jahren war er z.B. gezwungen, als „singender Prinz“ seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Nach 2004 war er bei der Stadt Jeonju und der Universität beschäftigt und amtierte bei den Ahnenfeierlichkeiten in Seoul. Da er keinen männlichen Nachkommen hat, ernannte er im November 2018 den koreanisch-amerikanischen Geschäftsmann Andrew Lee, der väterlicherseits mit dem Yi-Clan verwandt ist, durch die Zeremonie der Schwertübergabe zum Kronprinzen.
 
[2] Dangun Wanggeom (단군왕검) gilt als Enkel des Himmelsherrn Hwanin, hervorgegangen aus der Verbindung seines Vaters Hwanung mit einer zur Frau gewordenen Bärin. Er soll dem Mythos nach der Gründer von Gojoseon (고조선), d.i. Altjoseon, sein (2333 v.Chr.). An diese erste Staatsgründung Koreas erinnert der nationale Feiertag Gaecheonjeol (개천절), das „Fest der Himmelsöffnung“, als Hwanung, der Sohn Hwanins und Vater Danguns, am 3. Oktober 2457 v.Chr. den Himmel öffnete und auf den heiligen Berg Baekdusan herabstieg, um unter den Menschen zu leben. Gija (chin. Jizi) ist Gegenstand einer Legende, die die Migration dieses chinesischen Weisen nach Osten mit der Gründung von Gija-Joseon (1122 v.Chr.) verknüpft. Angeblich hatte Wu, der König von Zhou, Gija die Königswürde verliehen, die Konfuzianisierung des neuen Joseon war damit legitimiert
 
[3] Das sinokoreanische  Zeichen für mu ist 巫, chinesisch als wu gelesen, und bezeichnet medial begabte Frauen, die mit ihren Ritualen Geister und Gottheiten herabsteigen lassen können. Die mudang (巫堂) ist dann ein „Schrein der mu“ und ihre Rituale, Praktiken sowie ihre religiösen Vorstellungen von der Welt können als mugyo (巫敎), „Religion der mu[dang]“ bezeichnet werden.  Die noch heute beliebte Bezeichnung Schamanismus für das koreanische mu übersieht die Unterschiede, die zwischen mudang und sibirischen Schamanen bestehen.
Foto von Dr. Heinz-Jürgen Loth

Foto: privat

Dr. Heinz-Jürgen Loth

lehrte Religionswissenschaft an verschiedenen deutschen Universitäten. Forschungsreisen nach Japan, Südkorea und Taiwan führten zu dem neuen Forschungsschwerpunkt Kultur und Religion Koreas (Veröffentlichungen über Choe Jeu, Sejong und Toegye).






Quelle: Magazin Kultur Korea (http://kulturkorea.org/