Ausland

(K)EIN ZUHAUSE IN DER FREMDE UND GETRENNT GELEBTE JAHRZEHNTE

 

                                IM GESPRÄCH MIT DER FOTOGRAFIN MARIA VITTORIA TROVATO ÜBER IHRE FOTOSERIEN

                                                                          „ULSAN“ UND „KOREAN ADOPTEES“

 

Maria Vittoria Trovato ist Sizilianerin, lebt in der wildromantischen Stadt Syrakus und hat eine Schwäche fürs Meer. „Ships and the sea“ hieß ein Fotoprojekt, dem sie sich seit 2008 widmete. Vor dem geistigen Auge entstehen Bilder der Buchten von Taormina und Palermo, von verschwiegenen Fischerdörfern und Hemingways altem Mann und dem Meer. Doch weit gefehlt! Maria Vittoria Trovato ist eine Weltreisende und interessiert sich für Häfen, Ölplattformen, Eisbrecher, Kreuzfahrtschiffe, Frachtschiffe – und für die größte Werft der Welt an der Ostküste Koreas: Ulsan. 


2010 hat sie sich auf den Weg gemacht, um dieses gigantische Gelände und die Menschen näher in Augenschein zu nehmen, die ihr Leben und ihre Arbeitskraft diesem Mikrokosmos namens Hyundai gewidmet haben. Sie hat die Räume des sozialen und beruflichen Alltags abgebildet; die Warteschlangen in der Kantine, das Pausengespräch der Betriebsangehörigen, die halbfertigen Schiffsrümpfe, die Werkswohnungen, den Kinderspielplatz ohne Kinder vor homogenen Apartmentblöcken, die nur von Koreanern bewohnt werden. Ausländische Werftarbeiter wohnen auf einem separaten Gelände, in anderen homogenen Apartmentblöcken. „Alles ist Hyundai und Hyundai ist alles“, erklärt Trovato und berichtet von anfänglichen Schwierigkeiten, Zugang zu dem Werftgelände und den Mitarbeitern zu bekommen. Mit Unterstützung einer italienischen Zeitung, nach diversen Mailanfragen und der nötigen Portion Beharrlichkeit gelang es ihr schließlich, das Chaebol-Imperium betreten und Fotos machen zu dürfen. 


Hyundai-Wohnkomplex in Ulsan

Hyundai-Wohnkomplex in Ulsan

Werkskantine, Hyundai Heavy Industries


Während die Ingenieure bereitwillig Fakten und Erfolge der Megawerft bilanzierten, in der über 20.000 Beschäftigte die größten Containerschiffe der Welt fertigen, begegneten ihr die Arbeiter mit skeptischer Scheu und verbaler Zurückhaltung. Eine Regung allerdings war allen zu entlocken: der Stolz, für dieses Großunternehmen arbeiten und die firmeneigene Infrastruktur nutzen zu dürfen: Wohnung, Parkplatz, Spielplatz, Kantine, Freizeiteinrichtungen. Trovato möchte eine Nahansicht der Menschen in diesem Milieu zeigen. Als sie eine steril lächelnde Koreanerin vor der Kamera zu Nonchalance und Natürlichkeit ermutigt, kollidieren zweierlei Kulturen und Denkweisen: Was die Fotografin als Alltagsporträt und Wirklichkeitsnähe intendiert, ist für ihr Gegenüber die Absicht, Verdruss abzulichten: Wer das Lächeln tilgt, tilgt auch den Stolz und die Zufriedenheit mit Arbeitsplatz und Unternehmen. Das wäre das Gegenteil dessen, was gesagt werden will - aus Sicht der Porträtierten. „Hyundai hat für alles gesorgt“, sagt Trovato, und die Beschäftigten danken es mit unverbrüchlicher Loyalität.


Bruce C. Dunn mit Familie

Bruce C. Dunn, 45 Jahre alt, aus Queensland (Australien) arbeitet seit Anfang 2009 als Supervisor eines Bohrschiffes. Er lebt mit seiner Familie in Ulsan. (Stand: 2010)

Ein Werft-Arbeiter erzählt, von seinem ersten Geld einen Fernseher gekauft zu haben, um in der sparsam dosierten Freizeit die Grenzen des Hyundai-Areals verlassen und zumindest visuell in die Außenwelt entfliehen zu können. Was sich für freiheits- und freizeitliebende, selbstbestimmte Individualisten wie ein Alptraum darstellt, ist für die Menschen vor Ort Teil des kollektivistischen Gedankens, der die koreanische Gesellschaft bis heute prägt. „Das Motiv, mit ihrer Arbeit und ihrem Team etwas Großes, Gemeinsames, Besseres zu schaffen, war Leitgedanke der Beschäftigten und allem anderen übergeordnet. Das war für mich die interessanteste Erkenntnis“, erklärt die Fotografin – zusammen mit der Tatsache, dass die größte Werft der Welt vor 30 Jahren noch ein kleines, unbedeutendes Fischerdorf war, wie die Überreste einstiger Fischerhütten am Meer belegen, die Trovato während ihres Aufenthaltes bestaunen konnte.


Für angeworbene Beschäftigte aus dem Ausland ist der Leitgedanke ein anderer. Sie kommen für drei oder vier Jahre, bleiben unter sich und gehen wieder. Interaktionen mit koreanischen Kollegen gibt es kaum - auch der mangelnden Sprachkenntnisse wegen. Der Charakter eines Kurzaufenthaltes spiegelt sich in der Kargheit der Wohnungseinrichtungen, wie Trovatos Fotos zeigen: Der blanke, leere Tisch einer indischen Familie, spärliches Kinderspielzeug, ein Familienfoto im Hintergrund oder das Paar aus Australien mit zwei kleinen Töchtern, die barfuß auf dem glatten Linoleum-Boden vor einer durchgehenden Vorhangverkleidung Porträt stehen. Auch über diesen Bildausschnitt hinaus gäbe es nicht viel mehr zu sehen, sagt die, die alles gesehen hat. Apartments für einen Zwischenstopp, kein Zuhause. 


Nach einem einwöchigen Aufenthalt in Ulsan fährt Trovato für ihr nächstes Fotoprojekt weiter nach Seoul. Obwohl sie 2010 erstmals nach Korea gereist ist, gab es auch zuvor immer schon Berührungspunkte. Im Rahmen eines Studentenaustausches wohnte sie in Schweden mit einer Koreanerin zusammen und begegnete während ihrer Zeit in New York einer Koreanerin, die als Adoptivkind in den USA aufgewachsen und nun auf der Suche nach ihren leiblichen Eltern war. Durch sie erfährt Trovato von der Organisation GOA’L (Global Overseas Adoptees‘ Link), die koreanische Adoptivkinder bei eben diesem Vorhaben unterstützt. Sie sucht den Kontakt, fragt, spricht, fotografiert und legt den Grundstein für ihre zweite Fotoreihe: „Korean Adoptees“, die zu realisieren einer spontanen Idee im Flieger nach Korea zu verdanken war. 


Eine eigens diesem Thema gewidmete, mittlerweile allerdings abgesetzte Fernsehsendung mit dem Titel „그 사람이 보고 싶다“ (‚Ich vermisse diese Person‘) war Hoffnung vieler Adoptivkinder und Eltern, mit Hilfe aktueller Bilder und solcher aus Kindertagen ihre Verwandten zu finden. Trovato war überrascht, diese Sendung sogar über den kleinen Bildschirm im Flughafenbus (Seoul < > Incheon) verfolgen zu können. Sie drückt auf den Auslöser, als das Foto eines kleinen Mädchens neben das einer Frau gelegt wird, deren Gesichtszüge unverkennbar dieselbe Identität verraten.


James Rosso / Yoo Shin Kim, Geschäftsführer von G.O.A.‘L (Global Overseas Adoptees‘ Link)

James Rosso / Yoo Shin Kim, 35 Jahre, Amerikaner aus Minneapolis. Er ist Geschäftsführer von G.O.A.‘L (Global Overseas Adoptees‘ Link), eine der wichtigsten Organisationen, die koreanischen Adoptivkindern bei der Suche nach den leiblichen Eltern hilft. 1997 begann er an der Hochschule Koreanisch zu lernen und flog 1998 zum ersten Mal nach Korea. Es gelang ihm nicht, seine koreanische Familie ausfindig zu machen.


Im Bus von Seoul Richtung Flughafen läuft die Sendung „Ich vermisse diese Person” (‘그 사람이 보고 싶다’)

Im Bus von Seoul Richtung Flughafen lief 2010 die Sendung „Ich vermisse diese Person” (‘그 사람이 보고 싶다’), bei der eine Koreanerin Fotos aus Kindertagen und der Gegenwart von sich zeigt, um ihre Familie in Korea zu finden. 


Die Suchenden, ihre Motive und ihr Erleben sind vielfältig wie das Leben selbst. Sie trifft auf Menschen, die für sich Fragen beantworten und ihrer Herkunft nachspüren wollen. „Jede Geschichte ist anders, jede ist individuell.“ Es gibt Adoptivkinder, die den weiten Weg aus Amerika oder Europa antreten, um ihren Vater in dessen Seouler Imbiss aufzusuchen, ohne sich je zu erkennen zu geben. „Sie kommen nur, um zu sehen.“ Andere treffen ihre Eltern und fühlen sich nicht als deren Kinder, während wieder andere den Kontakt nur deshalb suchen, weil sie die Frage nach dem Warum umtreibt: „Warum habt ihr mich zur Adoption freigegeben?“

Für viele verändert sich das Leben nach einer solchen Begegnung drastisch, und das ist für manche so gut wie es für andere schlecht ist. Für noch andere ist eine persönliche Begegnung schlicht gar nicht wichtig. Ihr Motiv besteht einzig in der Suche nach ihren kulturellen Wurzeln; sie fliegen für einige Monate nach Korea, um sich dem Kulturkreis zu nähern, die Sprache zu lernen, das Miteinander zu verstehen. Dann müssen sie tagtäglich erklären, wieso sie als Koreaner kaum oder kein Koreanisch sprechen und richtigstellen, dass sie keine Koreaner sind, sondern Schweden, Deutsche, Amerikaner oder oder oder, obwohl sie wie Koreaner aussehen und in Korea geboren wurden. Das wiederum bedarf einer Erklärung, es folgt die halbe Lebensgeschichte, manche ermüdet das.


Yoon C. (Cometti) Joyce, 35 Jahre alt, Italiener

Yoon C. (Cometti) Joyce, 35 Jahre alt, Italiener. Er wurde im Alter von drei Monaten von einer Familie aus Bergamo adoptiert. Er war noch nie in Korea, arbeitet als Schauspieler und hat in verschiedenen Filmen wie „Gangs of New York“ und „Kundun“ mitgespielt.

Trovato hat auch den 35-jährigen Yoon C. (Cometti) Joyce getroffen, der im italienischen Bergamo aufgewachsen und dort so glücklich ist, dass er zu keinem Zeitpunkt Ambitionen hegte, seine leibliche Familie zu suchen, zu finden, zu treffen oder auch nur von Ferne zu sehen.


,,Man kann sogar spüren, in welchem Land die Adoptivkinder aufgewachsen sind“, sagt die Fotografin, „weil sie die jeweilige Kultur und deren Codes sichtbar übernommen haben.“ Yoon C. Joyce hat breite Schultern, trägt Silberkette mit Amulett, wirkt unbeeindruckt, cool. Mit seinem weit aufgeknöpften Hemd ist er der italienischen Lässigkeit sichtbar näher als der koreanischen Sittlichkeit. Sein Antlitz verrät koreanischen Ursprung, sein Habitus italienische Lebensart, und man bekommt ein Gefühl dafür, was Trovato meint.


Eltern und Kinder müssen bei einer persönlichen Begegnung also nicht nur getrennt gelebte Jahrzehnte, sondern auch getrennt gelebte Kontexte überwinden. Da mögen gemeinsame Rückblicke helfen wie die von Susanna Weslien, die als Sechsjährige adoptiert wurde und deren einzige Erinnerung an ihre Mutter ein Aufenthalt im Lotte-Kaufhaus war. Trovato fängt diesen Rückblick im Heute ein und ergänzt das Foto der mittlerweile erwachsenen Frau um eines der „Lotte World“. Die Bezugnahme auf Vergangenes spiegelt sich im fotografischen Motiv

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Nik Nadeau, 22 Jahre, aus Hugo, Minnesota

Nik Nadeau, 22 Jahre, aus Minnesota / USA. 2008 kam er zum ersten Mal nach Korea. 2010 zog er nach Seoul. Er unterrichtet Englisch und mag Inline-Speedskating. Er konnte seine Mutter finden, nicht jedoch seinen Vater.

Da ist der 22-jährige Skater Nik Nadeau aus Minnesota, der fast andächtig lächelnd vor der Großstadtkulisse Seouls posiert, wo er seit 2010 lebt – als Amerikaner, der in Korea Englisch unterrichtet und mit seiner leiblichen Mutter auch seine andere Heimat wiedergefunden hat. Hier verbergen sich feine Botschaften im Bild – zuweilen umso mehr, je weniger zu sehen ist.


So zurückhaltend die Werftarbeiter in Ulsan blieben, so offen waren die Adoptivkinder, Einblicke in ihr (Seelen-)Leben zu gewähren. Trovato erklärt diese Nähe mit kultureller Vertrautheit und die Distanz mit dem Gegenteil: Eine Fotografin aus Italien trifft in Korea auf in Korea geborene Adoptierte aus Europa und Amerika. Es eint das Gefühl einer gemeinsamen Beheimatung im westlichen Kulturkreis und der Außenseiterstatus in der Fremde. In Ulsan hingegen trifft die eine Welt auf eine andere - und beide bleiben sich fremd. „Ich habe viel gelernt, viel verstanden und viel Verständnis entwickelt“, resümiert Trovato. 



Zwei Fotoserien, zwei Erfahrungen, eine doppelte Bereicherung.


Bild von Dr. Stefanie Grote

Foto: privat

Dr. Stefanie Grote

Redaktion "Kultur Korea"






Quelle: Magazin Kultur Korea (http://kulturkorea.org/