Etwa ein Viertel des gesamtkoreanischen Bambusbestandes steht in Damyang, einer Region, gerade mal so groß wie das alte West-Berlin. Die schnell nachwachsende Pflanze gehört seit langem zum Leben der Einheimischen und ist noch heute zentraler Bestandteil ihrer Küche und des Kunsthandwerks. Im Frühjahr, wenn die Halme ihre Blätter wechseln, beginnt gleichzeitig die Zeit des Sprießens, und unzählige neue Triebe suchen ihren Weg nach oben.
Eine der wichtigsten Wasseradern Koreas, der Yeongsan-Fluss, durchquert auf dem Weg zum Gelben Meer zuerst den Ort Damyang. In den Ladenstraßen der kleinen Kreisstadt sitzen Frauen auf dem Gehweg und preisen Gemüse, Kräuter und frische Bambussprossen an. Als Grundlage lokaler Speisen fehlen sie derzeit in keiner von Damyangs Küchen.
Flanieren im Jungnogwon (Fotos: Bodo Hartwig)
Erholung im städtischen Bambuspark
Unweit des Yeongsans, an dessen Uferpromenade sich zahlreiche Imbissstuben und Restaurants angesiedelt haben, führt eine Brücke hinüber zum zentralen Bambuspark. Anfang des Jahrtausends erst wurde der Hügel mit mehr als 30 Hektar grünem Bambus kultiviert. Inzwischen flanieren im Jungnogwon auf kilometerlangen, abgesteckten Wegen jährlich Millionen Besucher. Sie kommen zumeist aus den Ballungszentren des Landes, auf der Suche nach Ruhe und Erholung. „Ein schöner Ort für Zweisamkeit", meint eine junge Frau aus Gwangju. Ihr kanadischer Freund ergänzt: „Hier kann man gut sein Wochenende verbringen, frische Luft schnappen und Fotos von diesen herrlichen Bäumen machen." Eine Studentin aus Singapur schwärmt vom Rascheln der Bambuszweige. Es vermittele Gelassenheit und Frieden. „Andererseits fühlt man sich in dieser Kulisse fast wie in einem chinesischen Martial-Arts-Film", lacht sie.
Bambus kann 17-18 Meter hoch werden
Schnelles Wachstum
„Bambus ist ja eine ganz besondere Pflanze", erklärt Dr. Dirk Fündling, kräftige Statur, kurzes graues Haar, „sieht irgendwie aus wie ein Baum, die Botaniker sagen, es sei ein Gras, nur sehr viel größer." Der 60-jährige frühere Berliner lebt schon länger in Damyang, hat sogar die koreanische Staatsbürgerschaft. Er ist ehrenamtlich in diversen Verbänden rund um den Bambus engagiert. „Auffällig ist, dass Bambus sehr viel schneller wächst als normale Bäume. Bis zu 1,25 Meter pro Tag wächst ein junger Schössling und wird dabei 17, 18 Meter hoch." Wahrlich genug, um dabei zuzuschauen. Ob dieses schnelle Wachstum auch zu hören ist?
Ein Rauschen in den Blättern
Ein Rauschen in den Blättern
Ein kleiner traditioneller Pavillon am anderen Ende des Parks. Im Schneidersitz bearbeitet Fächer-Meister Kim Dae-Seok kleine Bambusholzstreifen. Wachstumsgeräusche habe er bisher noch nicht gehört, sagt der Siebzigjährige. „Ein Rauschen in den Blättern gibt es wohl. Aber wenn man die Sprösslinge wachsen hören will, muss man wahrscheinlich einen ganzen Tag lang dort lauern." Der Kunsthandwerker bestreicht die frischen Fächerspeichen mit Reismehlkleister. Stück für Stück klebt er sie auf halbrund ausgeschnittenes Maulbeerpapier, das wie eine Ziehharmonika gefaltet ist. „Aber warten Sie ruhig mal eine Weile im Schatten", empfiehlt er, „die Sprösslinge sind ja gerade überall frisch rausgekommen, die Sonne strahlt, und der Wind weht. Wenn dann die äußeren Schalen abfallen, könnte man vielleicht was hören." Mit gekonntem Schwung öffnet und schließt der Meister den neuen Fächer zur Probe und wendet sich dann dem nächsten Exemplar zu. Kunstgewerbliches aus Bambus wird heutzutage überwiegend an Touristen verkauft. Und die sind hier an diesem herrlichen Wochenende zahlreich unterwegs. Die Vorstellung, ob und wie der um sie herum sprießende Bambus vielleicht klingen mag, überrascht selbst die Einheimischen unter ihnen. In ihrer Fantasie zumindest könnte es sich so anhören: „juk-juk-juk", „palsarak-palsarak", „saak-saak."...
Bild einer Bambussprosse
Junger-Bambus wächst bis zu 1-25 Meter pro Tag
Geflochtene Proviantboxen
Die Besonderheit von Bambus im Wachstum und in der Art des verholzten Halmes habe die Menschen seit Jahrhunderten begeistert, erzählt Dr. Fündling. „Bambus ist als Werkstoff sehr vielseitig verwendbar. Anders als normales Laub- oder Nadelholz ist er sehr biegsam, zäh und elastisch, alles Eigenschaften, um daraus vielfältige Gebrauchsgegenstände herzustellen, wie geflochtene Matten oder Körbe." Am Stadtrand, hinter einem hellblauen Tor aus verziertem Blech, liegt der Hof des Korbmachers Nam Sang-Bo. Gerade spaltet der drahtige Mann mit einem dicken Messer ein langes grünes Bambusrohr. Es kracht jedes Mal laut, wenn er die sogenannten Nodien durchschlägt, die stabilisierenden Knoten im Halm. Das kostet Kraft, aber die Handgriffe sitzen: halbieren, vierteln, achteln. Immer weiter teilt der Grauhaarige die langen Streifen, bis sie nur noch wenige Millimeter stark sind. „Vor der Befreiung von den Japanern, gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, habe ich schon diese viereckigen Proviantboxen für die Soldaten der Luftwaffe gemacht", erzählt er. „Sie gaben uns Reis dafür. Ich war damals noch Schüler, und die Lebensmittel waren knapp." Der Endachtziger mit dem freundlichen Gesicht hat sein Sortiment seither nur wenig erweitert. Hübsche, schlichte Körbe verschiedener Größe mit Deckel. Das Prinzip der Herstellung in manueller Handarbeit blieb dabei stets unverändert. „Je nach Größe mache ich etwa drei Stück pro Tag. Mit den umgerechnet 17 Euro, die ich dafür bekomme, verdiene ich allerdings fast nichts. Und deshalb wollen auch die jungen Leute das Handwerk nicht fortführen." Der Korbflechter geht in sein kleines Atelier. Den Strang der Bambusfasern zieht er durch ein kleines Loch in der Wand und verarbeitet sie zu einem neuen Korb. Der Beruf hat seine Spuren hinterlassen an den Händen und Fingernägeln des alten Mannes.
Bambussproesslinge sind ein beliebtes Fotomotiv
Trommeln und Flöten
Am Ende einer von hohen Metasequoias gesäumten Ausfallstraße Damyangs befindet sich die Werkstatt von Musikinstrumentenbauer Kim Jong-Hyeok. In einem ehemaligen Ladengeschäft türmen sich Trommeln, Flötenrohlinge und Bündel aus Bambusfasern. Der Mittvierziger im blauen Sporthemd tüftelt hier an historisch überlieferten, fernöstlichen Instrumenten, wie der Saenghwang, einer Mundorgel mit 17 Bambusröhrchen, oder den beiden Perkussionsinstrumenten Buk und Janggu. Sie sind beim Samul Nori, dem Spiel der vier Dinge zu hören - folkloristische Tanz- und Rhythmusdarbietungen. „Eigentlich werden solche Trommeln aus teurem Paulowniabaum-Holz hergestellt," sagt der Musikhandwerker. „Als ich hörte, dass unsere Vorfahren in Damyang den Korpus aus preiswertem Bambusgeflecht nachbildeten, wollte ich mit dieser Methode die alten Bambusklänge wiederbeleben." Doch weder Originalinstrumente noch Bauanleitungen existierten. So blieb ihm nur, zu improvisieren. „Die Herausforderung war, einen geschlossenen Resonanzkörper aus Bambusflechtwerk zu bauen. Ich überlegte, die Innenseite des Korpus mit dickem Maulbeerpapier zu bekleben, und das hat nach einigen Versuchen überraschend gut funktioniert", sagt Kim Jong-Hyeok, der selbst passionierter Samul Nori-Spieler ist.
Privater Bambushain in Damyang
Wilder Bambus
Zurück in der ländlichen Peripherie von Damyang-Stadt und unterwegs in einem von zahlreichen privaten Bambushainen. Dr. Fündling inspiziert in einer kleinen Gruppe von Fachleuten das Wachstumsstadium der Sprösslinge, die auch hier gerade überall aus dem von gelblichem Laub bedeckten Boden schießen. Vielleicht ein guter Ort, um den Bambus wachsen zu hören? „Hier könnte eine gute Stelle sein, weil die schon an dem Punkt sind, an dem das schnelle Längenwachstum einsetzt", sagt der Experte, während er vorsichtig über das abschüssige Gelände stapft. Befestigte Wege wie im städtischen Bambus-Park gibt es hier nicht, aber der leichte Zugang verrate, dass es sich um einen relativ gepflegten Wald handele. „Normalerweise, wenn das wilder Bambus wäre, käme man da gar nicht rein", sagt Dr. Fündling. „Da stehen die Halme im Abstand von wenigen Zentimetern, und es ist stockfinster, weil das Licht komplett von oben abgehalten wird. In Nutzwäldern werden deshalb auch regelmäßig ältere Stämme herausgeschnitten und Bambussprossen geerntet." Nach ein paar Metern spitzen die Männer abermals die Ohren. Doch außer ein paar Kühen im Tal ist an diesem windstillen Tag kaum etwas zu hören.
Bambus kulinarisch
Weiter unten, im Waldrestaurant „Junglimwon", herrscht indes emsiges Treiben. Die halbe Belegschaft ist bei der Vorbereitung des Drachen-Menüs. Rund zwanzig Gäste sitzen bereits an einer zwölf Meter langen Festtafel, inmitten eines wahrhaftigen Bambus-Märchenwaldes. Zwei sechs Meter lange Bambusrohre, die in einem länglichen Metallofen schmoren, müssen jetzt herausgenommen und serviert werden. Eine duftende Dampfwolke entweicht. Vier Leute hieven das 300 Grad heiße Schmorgut hinüber zu den Tischen, von wo aus die Blicke der Kundschaft schon erwartungsvoll auf das lange Kochutensil gerichtet sind. Jedes Segment der fast zwanzig Zentimeter starken Röhre beherbergt eine von zehn verschiedenen traditionellen Speisen. „Also, hier drin haben wir Rippchen, Oktopus, Krebse, Abalonen, Trockenfisch, Muscheln, eingelegtes Rindfleisch, Hühnerfleisch, Eier, und Bambusreis", sagt Restaurantbetreiber Choi Kyeong-Nam. „Das Ganze schmort zwei Stunden lang im eigenen Saft und bekommt durch das Holz der Bambusröhre einen unvergleichlichen Geschmack." Für den Betrieb seines Restaurants rodet der Wirt rund 3000 Bäume im Jahr. Doch jeder gefällte Baum mache Platz für zehn neue, sagt er. Und die wachsen ja schnell nach. Zur Feier des Tages bringt der Sechzigjährige ein besonderes Stück Bambusrohr und schüttelt es stolz: „2000er Bamboo Wine." Das geschlossene Rohr lagerte in 20%igem Alkohol. Über die Zeit ist dieser in die Hohlräume hineindiffundiert. Der Geschmack des bräunlichen Getränks soll an Eichenholzfass und Whisky erinnern, sei nur viel gesünder. Darauf stößt man jetzt an, mit einem lautstarken Wihayeo (위하여, ,Zum Wohl‘).
Wachstumsgeräusche
Unterdessen ist tiefe Nacht hereingebrochen über Damyang, die Sterne stehen am Himmel, von fern erklingt leise eine Tempelglocke. Während sich jetzt so mancher vom Feiern erholen dürfte, wachsen im Bambushain die Sprossen ein ganzes Stück weiter. Und wer früh genug aufsteht und etwas Glück hat, der kann ihn dann hören, den „Klang des wachsenden Grases".
Quelle: Magazin Kultur Korea (http://kulturkorea.org/)