Dr. Marla Stuckenberg
Dr. Marla Stukenberg absolvierte ein Studium der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft, Mediävistik und Politikwissenschaft und schloss dieses mit Promotion ab. Nach ihrem Studium leitete sie das Lektorat für außereuropäische Geschichte und Kulturen am Verlag C.H.Beck in München. Seit 1999 ist sie für das Goethe-Institut tätig, das sie nach Karachi, Jakarta, Mumbai und Bangkok führte. Seit 2016 leitet Frau Stukenberg das Goethe-Institut Korea; sie ist zudem Regionalleiterin der Goethe-Institute in Ostasien. (Foto: Goethe-Institut Korea/Hyundong Ju)
In diesem Jahr wird der 30. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung begangen. Welches Programm plant das Goethe-Institut Korea, um dem besonderen Jahrestag Rechnung zu tragen?
Wir arbeiten bereits seit zwei Jahren an einem besonderen Theaterprojekt und freuen uns sehr darauf, das Theaterstück „Borderline“ am 3. Oktober 2020, dem 30. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung, am Residenztheater in München zur Aufführung zu bringen. Kurz nach der Premiere in Deutschland wird „Borderline“ im Rahmen des Seoul Performing Arts Festival auch in Korea gezeigt.
„Borderline“ ist ein dokufiktionales Theaterstück, das von zahlreichen in Deutschland und in Korea geführten Interviews und weiterem dokumentarischen Material ausgeht. Die Schauspieler*innen aus Südkorea und aus Deutschland erzählen Geschichten der Flucht und Ankunft, der Trennung und Wiedervereinigung. Die Recherche und die szenische Umsetzung suchen nach den Parallelen zwischen der erfahrbaren Gegenwart in Südkorea und der jüngsten Geschichte Deutschlands. Für die Recherche und den Text ist der Journalist und Autor Jürgen Berger verantwortlich; Regisseur ist der mehrfach ausgezeichnete Leiter des Creative VaqQi Theater Seoul, Kyungsung Lee.
Ein weiteres Programm, das wir für den 30. Jahrestag der Wiedervereinigung vorbereitet haben, ist eine Filmreihe mit DEFA-Filmen, die wir im September in Kooperation mit dem Seoul History Museum zeigen werden. Dr. Andreas Kötzing, Historiker mit den Forschungs- und Lehrschwerpunkten Deutsch-Deutsche Nachkriegsgeschichte sowie Film- und Mediengeschichte im 20. und 21. Jahrhundert, hat die Filmreihe kuratiert, wird jeweils zugeschaltet, um in den Film einzuführen, und wird zudem für eine Fragerunde mit dem Publikum zum Abschluss der Reihe zur Verfügung stehen. Diese Reihe und die sie begleitenden Gespräche bieten ausgehend vom filmischen Erleben intensive Einblicke in die Wendezeit um 1989/90.
Zudem entsteht anlässlich des Jubiläums „30 Jahre deutsche Wiedervereinigung“ eine Kooperation mit dem Committee on Library & Information Policy of Korea (CLIP). Vorgesehen ist von koreanischer Seite die Bildung eines Forums „Wiedervereinigung und die Rolle der Bibliotheken“, um das Thema gerade in der jüngeren Bevölkerung wachzuhalten. In der geplanten Veranstaltungsreihe wird u.a. auch die Zusammenführung der Bibliotheken in West- und Ostdeutschland ein Thema sein.
Dorasan Station, die letzte Zugstation auf südkoreanischer Seite
Dorasan Station, die letzte Zugstation auf südkoreanischer Seite: Am Tag der Korea-Premiere des digitalen Spiels „Mauerspechte“ mussten alle Teilnehmer an der Dorasan Station aussteigen und ihren Ausweis kontrollieren lassen, bevor sie den Premierenort betreten konnten. (Foto: Nolgong)
Nimmt das Thema „Wiedervereinigung“ im Programm Ihres Instituts generell einen höheren Stellenwert ein als in dem von Goethe-Instituten anderer Länder, die nicht die Erfahrung der Teilung gemacht haben?
Auch in anderen Ländern und in den Programmen der Goethe-Institute weltweit spielt das Thema meist eine große Rolle. Hier in Korea allerdings verstärken die historische Parallelerfahrung beider Länder und die noch andauernde Betroffenheit der Menschen das Interesse und die Dringlichkeit..
Die Erfahrung mit der deutschen Wiedervereinigung ist in Südkorea in vielen Kontexten gefragt und tritt anlässlich des 30. Jahrestags in den Vordergrund. Aber auch im vergangenen Jahr hatte das Goethe-Institut Korea zum 30. Jahrestag des Mauerfalls einen entsprechenden Themenschwerpunkt mit der Entwicklung des digitalen Spiels „Mauerspechte – von der DMZ zur Berliner Mauer“. Der koreanische Spieleentwickler Peter Lee (Nolgong) erfand ein Spiel, das geteilte Geschichte und insbesondere das Thema „Grenze“ interaktiv erfahrbar macht und das Bewusstsein besonders der jüngeren Generation für die deutsche und koreanische Teilung in ihrer gesamten Ähnlichkeit und mit all ihren Unterschieden schärft. Nach dem Launch des Spiels im Januar 2019 in den Räumen der Gedenkstätte Berliner Mauer fand wenige Tage später in der Nähe der symbolträchtigen Dorasan Station, der letzten Bahnstation auf südkoreanischer Seite, die koreanische Premiere statt. Das Spiel wird seitdem auch an koreanischen Schulen eingesetzt, bei denen deutsche Geschichte auf dem Lehrplan steht. In deutschen Schulen wiederum wird die Geschichte Koreas leider nicht oder zumindest nicht ausreichend berücksichtigt.
Abgesehen von den runden Jahrestagen spielt der Themenkomplex „Teilung, Flucht, Wiedervereinigung“ als thematische Unterströmung in einigen unserer Programme hier in Korea mit. Zudem habe ich beobachtet, dass Gespräche, die sich zunächst um andere Themen drehen, im weiteren Verlauf irgendwann Bezug nehmen auf die gemeinsame Erfahrung beider Länder eines geteilten Staatsgebietes und einer geteilten Nation und auf das für Korea noch unerfüllte Ziel einer Wiedervereinigung.
Allerdings sind die Themen „Teilung, Flucht, Wiedervereinigung“ keineswegs die einzigen prominenten Themen unserer Arbeit. Aktuell geben uns beispielsweise die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz sehr starke inhaltliche und ästhetische Impulse für die kulturelle Programmarbeit.
Wie empfinden Sie den Alltag in einem immer noch geteilten Land?
Im Alltag begleitet mich nicht permanent die Empfindung, in einem geteilten Land zu leben. Südkorea und insbesondere die Hauptstadt Seoul bietet eine dynamische und höchst inspirierende Lebensumwelt, in der man täglich vielen verschiedenen Eindrücken und Impulsen ausgesetzt ist; sei es die Topographie der Stadt, die abwechslungsreiche Architektur, das lebendige Kulturleben mit Höhepunkten in allen Kunstsparten und die popkulturelle Welle Hallyu. Andererseits ist das Bewusstsein der nahen Grenze ein Faktor, den man nie lange ganz ausblenden kann. Wir sprechen ja mit Menschen, die Angehörige in Nordkorea haben und seit Jahrzehnten vermissen; wir sprechen mit Menschen, die sich daher sehnlichst eine Wiedervereinigung wünschen, oder auch mit Menschen, die eine Wiedervereinigung aus verschiedenen Gründen zutiefst ablehnen.
Am deutlichsten habe ich die Teilung ganz real und physisch erlebt auf meiner ersten Reise nach Nordkorea im November 2018. Seoul und Pjöngjang liegen nur etwa 195 km auseinander; man könnte also auf dem Landweg locker einen Tagesausflug machen. Aber die Reise führt zunächst per Flug nach Peking, wo man am nächsten Morgen das Visum an der nordkoreanischen Botschaft erhält, um von dort weiterzufliegen nach Pjöngjang. Zwischen den beiden Nachbarstädten liegt somit eine weite Reise - und zwischen den Lebensumständen der Menschen in Süd- und Nordkorea - liegen Welten.
Außerdem drängt sich das Bewusstsein, in einem geteilten Land zu leben, immer dann verstärkt auf, wenn es zur Verschärfung in den Beziehungen beider Länder und neuen Drohgebärden des Nordens kommt, die einen Unsicherheitsfaktor in den Alltag tragen, mit dem es umzugehen gilt.
Der Raum vor Beginn des Spiels: verschiedene Textpassagen mit Bildern
Der Raum vor Beginn des Spiels „Mauerspechte": verschiedene Textpassagen mit Bildern (Foto: Nolgong)
Auf Ihrer Website ist zu lesen, dass das Goethe-Institut Korea seit 2004 auf Projektbasis auch im Norden der koreanischen Halbinsel arbeitet, soweit es die politischen Rahmenbedingungen erlauben.
Ja, richtig, wir haben in Nordkorea keine Niederlassung, sondern arbeiten dort auf Projektbasis, wobei wir den Schwerpunkt auf Initiativen im Kultur- und Bildungsbereich legen. Wir versuchen, Handlungsspielräume zu nutzen und diese in kleinen Schritten nach Möglichkeit auch zu erweitern, indem wir beispielsweise mit Vertreterinnen und Vertretern aus dem Kulturbereich in Kontakt bleiben, die zu einer gesellschaftlichen Modernisierung des isolierten Landes beitragen können.
Beispiele dafür waren in den letzten Jahren unsere Beiträge zur Internationalen Buchmesse in Pjöngjang oder auch die Zusammenarbeit mit dem PIFF, dem Internationalen Filmfestival Pjöngjang. Unser Hauptprojekt ist aber die Einrichtung einer Papierrestaurierungswerkstatt an der Großen Studienhalle des Volkes in Pjöngjang, der zentralen Bibliothek in der nordkoreanischen Hauptstadt. Die Papierrestaurierungswerkstatt wird dazu beitragen, wertvolle Manuskripte zu erhalten, die zum gemeinsamen kulturellen Erbe von Süd- und Nordkorea gehören. Wir konnten die Werkstatt zwar bereits mit den erforderlichen Werkzeugen und Geräten ausstatten, allerdings steht die Inbetriebnahme noch aus, da wir auf Grund der politischen Spannungen im letzten Jahr nicht das geplante und erforderliche Training der nordkoreanischen Restaurateur*innen mit Expert*innen aus Deutschland durchführen konnten. In diesem Jahr steht nun COVID-19 ohnehin allen Plänen im Wege. Wenn wir diese letzte Hürde nehmen können und die Papierrestaurierungswerkstatt in Pjöngjang an den Start geht, wird dies ein nachhaltiges Erfolgsbeispiel sein, das wir mit viel Geduld und über viele Hindernisse hinweg endlich erreicht haben werden.
Sofern es die politischen Entwicklungen zulassen, möchten wir auch weiterhin die kulturelle Programmarbeit in Nordkorea fortsetzen. Die kulturellen Brückenköpfe des Landes sind aus unserer Sicht wichtige Ansprechpartner für den künftigen Dialog, wenn es zu tiefgreifenden Veränderungen im gesellschaftlichen und politischen System Nordkoreas kommen sollte.
2018 konnte das Goethe-Institut Korea sein 50-jähriges Jubiläum feiern. Viel wurde erreicht. Aufgrund verschiedener Reformen in der koreanischen Bildungspolitik ist die Bedeutung des schulischen Deutschunterrichts in den vergangenen 20 Jahren allerdings drastisch zurückgegangen. Macht sich das auch in Ihrer Arbeit bemerkbar?
Im Rahmen dieser Reformen wurden die Bildungsangebote im Fremdsprachenbereich von staatlicher Seite in der Tat sehr stark reduziert. In Südkorea unterrichteten (Stand 2019) nur noch 31 Deutschlehrer*innen in Festanstellung an staatlichen Schulen, und noch 4657 Schüler*innen lernten an staatlichen Schulen Deutsch. Der Erhalt des Deutschen als Fremdsprache im nationalen Bildungssystem ist eine Herausforderung.
Die Bildungsreform hat jedoch im Gegenzug eine Zunahme der Nachfrage nach Deutschkursen am Goethe-Institut Korea und bei privatwirtschaftlich organisierten Anbietern ausgelöst. Insgesamt hat die Nachfrage nach Deutsch als Fremdsprache in Korea im Verlauf der letzten 10 Jahre tendenziell sogar zugenommen; diese Nachfrage wird jedoch nun anders gedeckt. Am Goethe-Institut Korea lernten 2019 4325 Kursteilnehmer*innen Deutsch – also fast die gleiche Zahl wie an allen staatlichen Schulen des Landes zusammen! Im Bereich der Bildungskooperation unterstützt das Goethe-Institut Korea die Deutschlehrer*innen an allen staatlichen wie auch nicht-staatlichen Schulen mit Fort- und Weiterbildungsangeboten; außerdem betreuen wir im Rahmen der sogenannten PASCH-Initiative 9 Partnerschulen dabei, Deutsch als Schulfach auszubauen. Wir bieten zudem Jugendkurse in Deutschland an für die Schüler*innen der beteiligten Schulen, was sowohl die Lernmotivation wie auch die sprachliche Kompetenz stärkt und Landeskunde lebendig erfahrbar macht. Eine noch relativ neue Zielgruppe unserer Spracharbeit sind Berufsschüler*innen. Wir haben eine Vereinbarung mit dem koreanischen Außenministerium geschlossen, auf deren Grundlage wir Deutschunterricht anbieten für koreanische Berufsoberschüler*innen, die sich sprachlich auf einen Einsatz in Deutschland im Rahmen ihrer Ausbildung vorbereiten, nachdem dies im staatlichen Bildungssystem nicht mehr gewährleistet ist.
Die Covid-19-Krise verhindert derzeit persönliche Begegnungen, ob in der Klasse oder auch in Deutschland. Mit Hilfe verschiedener Online-Angebote überbrücken wir diese Zeit mit gutem Unterricht, spannenden Fortbildungen und innovativen Veranstaltungen für Schülerinnen und Schüler
Teilnehmer des „Mauerspechte“-Spiels
Teilnehmer des „Mauerspechte“-Spiels. Nach Download der App „Wallpeckers” (,Mauerspechte’) müssen Lückentexte zum Thema „Geschichte der Teilung und Wiedervereinigung“ vervollständigt werden. Die fehlenden Textpassagen finden sich auf den Infotafeln, die über den Raum verteilt sind. (Foto: Nolgong)
Sie haben bereits Goethe-Institute an anderen Orten geleitet. Welches sind die besonderen Herausforderungen des Standorts Seoul, und was sind Ihre Wünsche für die Zukunft?
Insbesondere sehe ich hier zunächst große Chancen für unsere Arbeit: Es gibt viele Themen und Interessen, die Deutschland und Korea gemeinsam in einer komplexen und globalisierten Welt bewegen; diese beschränken sich keineswegs auf vermeintliche historische Parallelen im Hinblick auf die Teilung, über die wir eingangs sprachen. Auch für die Themen der Gegenwart, z.B. rund um das Thema Digitalisierung und Künstliche Intelligenz, finden wir gerade in Korea viele Anknüpfungspunkte. Auch die kulturelle Infrastruktur des Landes bietet mit ihren exquisit ausgestatteten Konzerthallen, Museen und Galerien sehr viele Möglichkeiten, die wir als Chance begreifen.
Ich würde mich zudem in der Metropole Seoul gerne noch stärker dafür einsetzen, dass ökologische Themen und Aspekte wie Diversität und Inklusion aufgenommen werden. Und natürlich werden wir uns weiter bemühen, das Interesse an Deutsch als Fremdsprache zu fördern.
Eine Herausforderung auf persönlicher Ebene ist für mich manchmal das Balli-balli (Schnell-schnell)-Tempo, mit dem in Südkorea gearbeitet wird. Ich bin selbst relativ fix, aber in Korea muss man noch einmal einen Gang hochschalten!