Strecken Sie Ihren Arm aus. Strecken Sie ihn so weit wie möglich nach vorn. Dann begeben Sie sich tief, tief in das Innere Ihrer Psyche. Reichen Sie so weit Sie können hinein, in dem Bemühen, das kleinste Detail auf dem Grund Ihrer Erinnerungen zu berühren, wo Ihre Persönlichkeit und Ihre Psyche ruhig sitzen und darauf warten, dass Sie wieder auftauchen. Lehnen Sie sich dort, am Boden Ihres ,,seelischen Brunnens", so weit wie möglich vorn über, um in den hintersten Winkel zu gelangen. Dort liegt die flüchtige Grenze zwischen Erinnerung und Phantasie. Dort befindet sich, diese beiden Sphären überbrückend, Park Wan-suhs Roman „Who Ate Up All the Shinga?“ (1992), der dem Leser ernsthaft die Frage stellt, wer und was er ist.
Es ist eine tief bewegende, warme, persönliche Erzählung über ein frühes Kindheitsidyll auf dem Lande. Ihm folgen die spätere Kindheit sowie die frühe und spätere Jugend mit dem Bemühen, sich an die große Stadt zu gewöhnen. Episoden voller Wärme, die etwa zwei Drittel der Erzählung füllen, werden dann wie der Morgennebel durch die Nachmittagssonne vertrieben, um einen Abend des Autoritarismus, der Rache und der kleinmütigen Menschlichkeit zu zeigen, die aus Angst entsteht. Die Geschichte verwebt Kindheit, Familie, Natur, Eltern und Großeltern miteinander und dann Blumen, Bäume, Bäche, Gemüse und Berge. Sie verknüpft Kolonialismus, Urbanisierung, Unabhängigkeit und Bürgerkrieg. Sie verknüpft Grund-, Mittel-, Oberschule und Universität. Die Erzählung endet mit dem Zerbrechen der „autoritären Peitsche“ in den frühen Tagen der modernen Republik Korea und der Jagd nach den „Roten“. Der Roman wurde 1992 veröffentlicht, als die Autorin 61 Jahre alt war und nachdem sie in den vorangegangenen 20 Jahren bereits zahlreiche andere autobiografische Romane geschrieben hatte. Dieser Höhepunkt ihres Werks präsentiert sie noch einmal als Meisterin ihrer Zunft.
Die Art, wie man schreiben sollte
Jemand, der berühmt ist, hat möglicherweise einmal gesagt, dass das Schreiben leicht sei: Setzen Sie sich einfach vor die Schreibmaschine, und schon fließen die Worte aufs Papier, als würden Sie sich die Pulsadern aufschneiden und das Blut strömt heraus. Während wir „Who Ate Up All the Shinga?“ lesen, durchschreiten wir Parks Erinnerungen und ihre Fantasie. Wir bewegen uns vor und zurück zwischen diesen beiden Polen: Wir schwimmen in ihrem warmen, metaphorischen Blut, in dem, was aus ihrem Herz und Geist überfließt. Und sie lässt es so leicht erscheinen.
Parks tief bewegender, erstaunlich einfacher, klarer und ehrlicher Schreibstil webt eine Geschichte wie eine weiche Feder, die in dem aromatischen Duft eines Jasminbaums schwebt. Die kleinen Kleinkinder spielen in dem gesunden Schmutz und Regen, zwischen ländlichen Büschen und Bäumen, und springen über den Fluss, um zum öffentlichen Plumpsklo des Gartens zu gelangen. Das sind die Erinnerungen der Autorin. Der Großvater hat seinen ersten Schlaganfall auf Seite 8, und bis Seite 9 hat die Mutter eine Revolte angezettelt und den Bruder zum Besuch der Oberschule nach Seoul geschickt.
Irgendwo außerhalb dieser Welt eines Kindes tobte ein Krieg zwischen Japan und China. Etwas später ereignet sich irgendwo anders ein Krieg zwischen Japan und den USA. Für eine Fünf- oder Sieben- oder Neunjährige sind solche Ereignisse der Weltgeschichte weit weg. Diese Daten der Weltgeschichte und die Realität des Kolonialismus und Imperialismus existieren nur, weil wir, Erwachsene in der heutigen Zeit, von ihnen wissen. Für ein Kind der damaligen Zeit, das sie durchlebte, waren sie alle weit entfernt. Die Libelle auf der Azalee ist für ein solches Kind viel realer.
„Die Regenschauer, die wir dort erlebten, boten ein großartiges Spektakel. Kinder in Seoul denken vielleicht, dass die Regengüsse aus dem Himmel kommen, aber wir kannten die Wahrheit: Sie stürmten von den Feldern heran wie Soldaten. Der Ort, an dem wir spielten, konnte in noch so unbarmherzigen Sonnenschein getaucht sein, sobald sich die Schatten auf den nahegelegenen Feldern herabsenkten, hielten wir nach einer Regenwand Ausschau, die sich auf uns zubewegte. Wir flohen dann in halsbrecherischer Geschwindigkeit nach Hause, kreischend, uns nur allzu sehr der Tatsache bewusst, wie schnell sich diese Regenwand vorwärtsbewegte.“ Der Regen war viel realer.
Die Realität ist das, was sich unmittelbar vor Ihnen befindet. Auf dem Lande sind das die Tiere, Pflanzen, Bäche, Hügel, Schamanen, Rituale, Regengüsse, Freunde, Großeltern, Mütter, Tanten, Onkel, Cousins, Insekten und Jahreszeiten. In der Stadt ist es dagegen das geordnete Leben: Ermutigt zu werden, in der Grundschule einen japanischen Namen zu verwenden; neue Freundschaften zu schließen; die Scham oder die gesellschaftliche Position, die sich daraus ergibt, ob man einen koreanischen oder japanischen Namen verwendet; kostenlose Gummischuhe zu erhalten, wenn Malaysia und Indonesien eingenommen werden, aber eine Rationierung der Gummischuhe zu erleben, wenn der Krieg für Japan schlechter läuft. Später gibt es eine Rationierung des Zuckers sowie Schulzeremonien, um den japanischen Kaiser zu ehren. Die Realität findet sich aber auch an Sonntagen in der Bibliothek; beim Erklimmen des Bergpfads und beim Überqueren des Bergs Inwangsan, um zur Schule zu gehen; bei der Rückkehr in die Heimatstadt des Großvaters, der nach seinem dritten Schlaganfall verstirbt.
Gefühle
Die hellen Lichter der großen Stadt haben die junge Park nicht wirklich beeindruckt. Sie wird spielend mit ihnen fertig. Das Wichtigste für sie - wie für die meisten präpubertären Jugendlichen - das eigene Image, wie andere über sie denken, ihre Freunde und natürlich ihre Eltern und Geschwister. Mutter und Bruder sind überall. Die junge Park tauscht problemlos reetgedeckte Hausdächer, Holzbalken und Erdmauern gegen Asphalt und Zement aus. Ihre Mutter ist der Fels in der Brandung, an dem sie sich festhält. Wie Kinder im Alter zwischen etwa neun und zwölf Jahren überall auf der Welt fühlt sich Park einerseits von ihrer Mutter abgestoßen, andererseits fühlt sie sich zu ihr hingezogen. Ihre Mutter ist eine Stütze für sie. Sie zieht von endlos fließenden Bächen und Flüssen auf dem Lande zu zwei Eimern Wasser am Tag in der Stadt um, die jeden Morgen von einem Arbeiter angeliefert werden. Die Mutter ist immer unverändert da.
Viele von Parks freiliegenden Emotionen wurzeln in fundamentaler Menschlichkeit, aber viele auch in dem Stolz eines Kindes. Sie beschreibt ihr erstes neues Zuhause in Seoul, in den Hügeln über dem heutigen Unabhängigkeitstor an der U-Bahnlinie 3. Sie beschreibt natürlich ihre neue Umgebung, aber man könnte es auch so verstehen, dass sie die Akzeptanz ihres frühen Erwachsenseins beschreibt. „Mein eigener Schönheitssinn hatte sich unter dem Einfluss einer Ästhetik entwickelt, die über Jahrhunderte überliefert worden war. Die Truhe, die ich hier vorfand, mit ihren [… ] kitschigen Farben, war eine Beleidigung für meine Augen.“ Dies ist die Art und Weise, wie Menschen erwachsen werden.
Die komplexen Emotionen der späten Kindheit und der präpubertären Existenz wabern hin und her, während Seoul die Zeit Mitte des 20. Jahrhunderts erlebt. Wenn ein Kind versucht, ein Erwachsener zu sein, aber in vielerlei Hinsicht noch ein junger Teenager ist, oder wenn ein älterer Teenager versucht, ein Erwachsener zu sein, aber in vielerlei Hinsicht immer noch ein Kind ist, können die Gefühle hervorbrechen. Die Bandbreite der Emotionen, die von Scham und Verlegenheit über die eigene Familie bis zu frei fließenden Tränen der Liebe reichen, wie man sie nur für die Familie vergießen kann; Sie alle finden wir bei der jungen Park, während wir ihr und ihrer Familie durch den Komfort des ländlichen Lebens und die Stabilität des Kolonialismus folgen, durch das milde Chaos der Unabhängigkeit im August 1945 und durch die Monate von Plünderung, Durcheinander und Angst, die durch den koreanischen Bruderkrieg (1950-53) ausgelöst werden.

Park veröffentlichte „Who Ate Up All the Shinga?“ 1992 im Alter von 61 Jahren, nachdem sie in den vorangehenden 20 Jahren zahlreiche andere autobiografische Romane geschrieben hatte.
Kaiserreich
Die Grund- und Mittelschule von Parks Seoul sind ganz klar Teil eines Kaiserreiches, so wie die Stadt Seoul selbst - mit direkten Transportwegen zu anderen Nationen, Ländern, Ethnien und unterjochten Menschen. Der Zug fuhr von Busan über Seoul nach Shinuiju an den Ufern des Yalu-Flusses und dann weiter nach Mukden in der südlichen Mandschurei, dem heutigen Shenyang in der chinesischen Provinz Liaoning. Auf vielerlei Weise war das Korea der 1930er und 1940er Jahre mit seinen umliegenden Gebieten Mandschurei, Honshu, Taiwan, Okinawa und natürlich dem Gebiet des heutigen Nordkoreas verbunden. Am Bahnhof Seoul sieht Park Migranten, die in Richtung Norden nach Shenyang und in die Ebenen der Mandschurei aufbrechen, um dort ein neues Leben zu beginnen. Sie warten mit ihrem Bettzeug unterm Arm am Bahnhof Seoul, um sich in die Randgebiete des Kaiserreiches zu begeben.
Nicht vor Seite 59, als die Autorin in die Grundschule kommt, tauchen die Japaner auf. Erinnern Sie sich: Die Kinder sprachen alle Koreanisch. Die Autoritäten mussten den Kindern beibringen, wie man japanisch „ist“, was immer das heißt, oder zumindest wie man Bürger eines Kaiserreiches ist. All dies sind gesellschaftliche Konstrukte – Rasse, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Identität – und die Kolonialregierung musste Bürger „erschaffen“. Die schockierende Oberflächlichkeit des Kolonialismus ist nicht nur für uns offensichtlich, ein Jahrhundert später. Sie war auch für die Kinder selbst offensichtlich.
„Ungefähr einen Monat lang haben wir keinen Fuß ins Klassenzimmer gesetzt, sondern nur Lieder gesungen und Spiele auf dem Schulgelände gespielt, während wir unseren Lehrern folgten und uns allmählich mit den japanischen Bezeichnungen für die Schuleinrichtungen vertraut machten.“ Wir sehen alles durch die Augen eines Kindes; so wirkt das Ganze auf Park auf gewisse Weise unschuldig und spielerisch. Als Erwachsene sehen wir jedoch die harsche Realität des kaiserlichen kolonistischen Systems. Es ist so, als würde man Ozymandias (andere Bezeichnung für den altägyptischen Pharao Ramses II.) beim Bau seiner Statue zusehen, während man das Endergebnis seiner Bemühungen kennt.
Wenn man einen Blick auf die praktische Umsetzung des japanischen Kolonialismus in ihrer Gesamtheit warf, ließen sich in dem System Rassismus, psychologische Unterdrückung und Gewalt finden. Vom ersten Schultag an werden wir in den Schilderungen Parks Zeuge der physischen Gewalt durch die japanische Kultur, Bildung, Gesellschaft, imperiale Politik und Besatzungsstrategie. Die imperialen japanischen Grundschulen in Seoul wandten institutionalisierte Formen der körperlichen Züchtigung an. Park beschreibt es am treffendsten in ihren eigenen Worten: „Unsere Lehrerin wusste, wie sie uns bösartig bestrafen konnte, ohne auch nur einen Finger zu heben: Sie ordnete an, dass sich die Schüler paarweise mit dem Gesicht zueinander aufstellen und sich gegenseitig Ohrfeigen geben, bis sie ihnen befahl, aufzuhören… Der wahre Grund, warum unsere Schläge immer härter wurden, bestand darin, dass es nicht einfach war, nicht von dem Gefühl beschlichen zu werden, dass sich das gegenüberstehende Kind einen Vorteil verschaffen wollte. Dies sorgte dafür, dass wir sogar noch härter zuschlugen… .“ Wenn Sie sich dieses Vorgehen im gesamten, von den Japanern beherrschten Raum vorstellen, bei jedem einzelnen Kind, können Sie vielleicht die unmenschliche Gewalt und den heftigen Widerstand von Chiang Kai-shek und Douglas MacArthur verstehen, die gegen den japanischen Staat kämpften.
Der Zweite Weltkrieg
Nachdem sich die Situation des Krieges zwischen Japan und China sowie des Krieges zwischen Japan und den USA nach dem Winter 1942-43 für Japan verschlechterte, wurde das Leben für die Bewohner Seouls härter. Hart, aber nicht vernichtend. In der Tat scheint sich Korea oder wenigstens Seoul ziemlich gut von dem Kolonialismus und dem Zweiten Weltkrieg befreit zu haben. Auf dem Höhepunkt des imperialen Japans in diesem Winter befand sich Park im letzten Jahr der Grundschule. Als das neue Schuljahr im März 1944 begann, war sie im ersten Jahr der Mittelschule, und das Reich kollabierte um ihr sonst so gut organisiertes Leben herum.
Bis Frühling 1945 und bis zum Beginn von Kapitel 8 wurden die Bewohner Keijos, eine koloniale Bezeichnung für Seoul, dazu aufgefordert, sich zu evakuieren. Einige Menschen verließen die Stadt. Parks Familie ging zurück nach Gaeseong. Der Onkel mit dem Eisladen war ein Schmuggler auf dem Schwarzmarkt. Das Essen war knapp. Die Polizei konfiszierte Reis. Getreide musste vom Lande nach Seoul geschmuggelt werden. Park stand kurz davor, das zweite Jahr der Mittelschule zu beginnen. Das Kind war verschwunden, und stattdessen gab es nun einen Teenager.
Die Auflösung des kaiserlichen Japans bis zum August 1945 schritt in Seoul voran, als würde man mit einem einzigen Wollfaden einen Pullover auffädeln. Reihe um Reihe, Faden um Faden. Langsam aber sicher ließ der japanische Einfluss nach. Und dann waren die Japaner plötzlich ganz verschwunden.
Bis Ende 1945 verlagerten sich Parks Sorgen von den Sorgen eines Teenagers und den Sorgen wegen ihrer Mutter auf Lebensmittelrationen, US-Soldaten, Sowjet-Soldaten und Universitäts-Eingangsexamen. Sie sagt irgendwo im Buch: „Ich spürte, dass ich nicht so sehr [auf einem Hügel],… sondern eher auf der Grenze von zwei völlig unterschiedlichen Welten stand. Ich fühlte mich unaufhaltsam hingezogen zu dieser unbekannten Sphäre, aber gleichzeitig wollte ich ein paar Schritte zurückgehen.“ Unsere junge Heldin steht am Abgrund, bereit für den Sturz.
Ein koreanischer Krieg
Was Korea allerdings zerstörte, war nicht der Rückzug der Japaner. Korea gelang es, einige weitere Jahre unter der gemeinsamen militärischen Besatzung von USA und UdSSR auszuhalten, während lokale politische Parteien und Bürgerorganisationen in den Städten des Landes auf- und abebbten. Park und ihre Familie konnten sich zwischen Gaeseong und Seoul hin- und herbewegen, was wichtig für die Stadtbevölkerung war, um an Reis zu kommen. In Gaeseong, das sich direkt südlich des 38. Breitengrades, aber nördlich von Seoul befand, war zunächst das Militär der USA und später das Militär der UdSSR stationiert. Beide scheinen sich in der Zeit zwischen 1945 und 1948 nur wenig restriktiv gegenüber der Bevölkerung verhalten zu haben. Zivilisten konnten sich frei zwischen den beiden Besatzungszonen bewegen, auch wenn die Züge überfüllt waren und nicht regelmäßig fuhren.
Von größter Bedeutung für die Welt und auch für die Erzählung Parks war jedoch der bittere Bruderkrieg, der bald danach ausbrach, in dem Rote gegen Nationalisten, Kommunisten gegen Faschisten und Radikale gegen Radikale kämpften. Die vielen Formen der koreanischen Identität und des koreanischen Nationalismus, die so lange von der kolonialen Unterdrückung in Schach gehalten worden waren, sorgten für eine Zersetzung der Gesellschaft, sobald der koloniale Korken gesprengt worden war. Dieser Bruderkrieg bahnte sich zwischen 1945 und 1950 an und brach dann 1950 aus, um bis 1953 anzudauern, von Maos Sieg bis zu Stalins Tod.
Das Vor und Zurück
Seoul wurde am 28. Juni 1950 in der Anfangsphase des Krieges von Kim Il-sungs Truppen eingenommen, die von der Sowjetunion unterstützt wurden. Am 25. September wurde Seoul von den Truppen der USA und Südkoreas zurückerobert.
Nach diesen frühen Kriegshandlungen und nachdem sich die nordkoreanische Armee in den Norden zurückgezogen hatte, schreibt Park:
„... Jeder [männliche koreanische] Rekrut, der noch lebendig war, war nur gerade eben mit dem Leben davongekommen; alle hatten ihr Überleben dem Schicksal zu verdanken. Jeder, der knapp dem Tod entronnen ist, wird mutiger und hat das überbordende Bedürfnis, ein bedeutungsvolles Leben zu führen. Die, denen es gelungen ist, die Wehrpflicht [in der nordkoreanischen Armee] zu umgehen, waren von dem blutrünstigen Verlangen nach Rache erfüllt, und wir blieben weiterhin im Krieg… . Nichts ist erschreckender als ein Bürgerkrieg, in dem es darum geht, zu töten oder getötet zu werden. Der Feind hatte weder eine andere Hautfarbe, noch eine andere Sprache; er gehörte einfach der kommunistischen Partei an… . Aber für uns waren Patriotismus und Anti-Kommunismus identisch. Nichts konnte ohne das andere existieren, sie waren zugleich Handteller und Rückseite der Hand.“
Nun fügen Sie dem ganzen Chaos eine weitere kommunistische Besetzung hinzu, dieses Mal durch die Chinesen. Am 1. Oktober 1950 erhielt Mao ein Gesuch von Stalin, Truppen in den Koreakrieg zu entsenden, insbesondere, da die US-Armee für den eigenen Geschmack bereits viel zu nah am eigenen Territorium war. Nachdem die Armee wieder südwärts zog, fiel Seoul am 14. März 1951 noch einmal, dieses Mal in die Hände der Freiwilligenarmee des chinesischen Volkes (PVA), die an der Seite der Armee des koreanischen Volkes (KPA) kämpfte. Die vereinten Streitkräfte der USA und der Republik Korea wurden jedoch nur nach etwas außerhalb der eigentlichen Stadt Seoul herausgedrängt. So jagte die 8. Division der US-Armee am 14.März 1951 die PVA und die KPA wieder aus Seoul hinaus, dieses Mal endgültig.
Dies war das vierte Mal für die Hauptstadt innerhalb von neun Monaten, dass sie den Besitzer wechselte. Die Einwohnerzahl von Seoul, die vor dem Krieg bei 1,2 Millionen gelegen hatte, betrug nur noch 200.000. Es herrschten Lebensmittelknappheit und Chaos. Es gab Verrat und Tod. Nachbarn bestahlen sich gegenseitig. Park Wan-suh durchlebte diese ganze Zeit und kümmerte sich um die beiden Kleinkinder ihrer Großfamilie, um ihren verletzten Bruder, ihre Mutter und ihre Schwägerin.
So schlimm die nordkoreanischen und chinesischen Truppen auch gewesen sein mögen, die südkoreanischen Truppen scheinen noch viel brutaler bei ihrer endgültigen Kontrolle der Hauptstadt vorgegangen zu sein. Infiziert von der Angst vor der „roten Bedrohung“ und mit dem Wissen über die Unmöglichkeit, einen „Nordkoreaner“ oder einen „Kommunisten“ zu erkennen, waren die Südkoreaner, die nun die Macht ergriffen hatten, besonders rigoros bei der Säuberung der „infizierten Zellen“, wie sie es sahen, in ihrer Gemeinschaft.
Park beschreibt unmittelbar diese Zurückgekehrten, die aus Seoul geflohen waren, insbesondere die Vertreter der neuen südkoreanischen Regierung. „Vielleicht hat ein Schuldbewusstsein sie dazu veranlasst, ihre Macht präventiv zu demonstrieren. Sonst wäre es für die koreanische Regierung, die einen königlichen Großmut gegenüber japanischen Kollaborateuren gezeigt hatte, nicht möglich gewesen, nun so rigoros zu sein.“ Südkoreaner hassten Nordkoreaner, aber japanische Kollaborateure waren in Ordnung.
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„Who Ate Up All the Shinga?“, 1992 ursprünglich auf Koreanisch veröffentlicht, wurde 2009 von Columbia University Press in englischer Übersetzung herausgebracht. Übersetzt wurde das Werk von Yu Young-nan und Stephen J. Epstein.
Die Großeltern
Menschen in Korea, die etwa zwischen 1920 und 1940 geboren wurden, - also Menschen, die heute zwischen Ende 70 und Ende 90 sind – wurden Zeugen der großen Verschiebung von einer ländlichen zu einer urbanen Gesellschaft. Sie, die mit Kühen und Wegen aus Schlamm groß geworden sind, sterben nun nach und nach – in einem Zeitalter von Glas & Stahl und Silikonchips. Park Wan-suh befand sich in der Mitte dieser Generation. Sie wurde in einer Zeit geboren, in der schamanistische Rituale zum Alltag gehörten. Sie starb in einem Zeitalter, in der die moderne Medizin vorherrschend war. Wenn Sie die äußerste Schicht eines modernen Südkoreaners „abkratzen", finden Sie jemanden, der sich nach einer rustikalen, ländlichen Vergangenheit sehnt. Dieses historische Bewusstsein und zugleich der Stolz auf den menschlichen Fortschritt finden sich überall in dem Roman, und diese beiden Pole sind eng mit der Identität moderner Koreaner verbunden.
Es ist möglich, dass Menschen aus dem Westen, die einen Blick zurück auf die Ursprünge der modernen koreanischen Identität werfen, es vielleicht merkwürdig finden, dass in Seoul so lange nach dem Bürgerkrieg eine Diktatur herrschte. Von 1948 bis 1988 haben die USA eine Diktatur in Seoul unterstützt oder zumindest akzeptiert. Die Südkoreaner selbst lebten unmittelbar mit ihren Diktatoren zusammen. Das Lesen trockener historischer Texte allein mag dies nicht erklären. Dankenswerterweise wirft Park durch ihren Roman, durch die Literatur, etwas Licht auf diese Angelegenheit. Literatur erklärt die moderne koreanische Identität besser als bloße historische Berichte.
Über das Buch selbst
Shinga (싱아) ist die koreanische Bezeichnung für Aconogonum polymorphum, ein blühendes Gebirgskraut, das man häufig in Teilen der Mandschurei und auf der koreanischen Halbinsel findet. Die Spezies Aconogonum umfasst in der Tat eine ganze Reihe von blühenden Gebirgskräutern. Aber machen Sie sich nichts daraus, wenn Sie sich nichts Genaues darunter vorstellen können. Für einen koreanischen Leser ist das Kraut genauso obskur wie für den westlichen Leser.
Laut Interviews hat Park dieses unbekannte Kraut aus einem bestimmten Grund ausgewählt: Sie wollte damit das Gefühl des Logelöstseins, des Sich-Außer-Kontrolle-Befindens, der Kuriosität, vermitteln. Während sie von ihrem ersten Zuhause in Seoul über den Hügel zur Grundschule lief, von einem Ort außerhalb der Stadtmauern zu einem Ort innerhalb der Stadtmauern, zählte sie die Pflanzen und Bäume und Vögel auf dem Berg Inwangsan. Auf dem Lande gibt es einen großen Reichtum an Pflanzen. Auf den kahlen Hügeln, die Seoul umgeben, fragt sie sich eines Tages: „Wer hat die ganzen Shinga gegessen?“ (,Who Ate Up All the Shinga?‘), da sie dort nichts Blühendes entdecken konnte.
Park Wan-suh, die im Oktober 1931 geboren wurde, verstarb im Januar 2011 im Alter von 79 Jahren. Sie schrieb ihren ersten Roman erst, als sie in ihren frühen Vierzigern war, in den frühen 1970er Jahren. „Who Ate Up All the Shinga?“, das rund zwei Jahrzehnte nach ihrem Debüt veröffentlicht wurde, ist die Geschichte ihrer Kindheit.
Der Roman wurde 1992 unter großer Aufmerksamkeit auf dem koreanischen Buchmarkt veröffentlicht und stieß auf eine sehr positive Resonanz. Es hieß, dass man den Roman lesen müsse, um seine Großeltern zu verstehen. 2009 erschien das Werk in englischer Übersetzung bei Columbia University Press, übertragen von Yu Young-Nan und Stephen Epstein, die Parks Geschichte einem internationalen Publikum nahebrachten.
Park war erst 14 Jahre alt, als das imperiale Japan vor den USA kapitulierte, und sie war zwischen 19 und 22 Jahren alt, als der Koreakrieg auf der koreanischen Halbinsel tobte. Dieser Krieg bildet das Ende der Geschichte.
Im Zentrum der Erzählung – vorgetragen aus der Perspektive eines alten Menschen, der sich an Kindheit und Jugend erinnert – steht die Frage der Identität. Das Lesen der Geschichte gleicht der Reise in die Tiefen unserer Persönlichkeit und unserer Erinnerung - die Mauern, die unsere Geschichte definieren. Wer bist du? Wer bin ich? Gewiss ist das ,Du‘, das man in einem Foto aus der Kindheit sieht, das ,Du' des Erwachsenen: Man weiß, dass es sich dabei um die eigene Person handelt. Aber sind diese beiden ,Du‘s die selbe Person? Würde das ,Du' der eigenen Jugend mit dem ,Du' des eigenen Erwachsenenlebens befreundet sein? Was am eigenen Leben formt einen Menschen?
Für Park sind es die Erinnerungen ihrer Kindheit. Hier sehen wir Park – eine 61-jährige Seniorin, lebendig und in guter Verfassung im industrialisierten Korea von Glas & Stahl in den frühen 1990er Jahren, die über die Farmen und Felder ihrer Jugend schreibt. Für Park sind es diese Erinnerungen, die sie zu dem machen, was sie ist.
„… Die Plumpsklos, mit denen ich aufwuchs, waren sauber genug, um darin Haferbrei zu essen. Sie waren sehr geräumig, manchmal hatten sie eine Größe von drei oder vier Kan, mit einem hölzernen Gestell in einer Ecke, wo Erwachsene ihr Geschäft verrichten konnten. Kinder hockten sich einfach auf den Boden. Dieser Bereich ähnelte einem Schuppen, und der Boden hatte eine leichte Schräge, sodass die Häufchen herunterrollen konnten, nicht in ein tiefes Loch, sondern in einen Bereich, in den die Asche aus der Küche geworfen wurde… .“
„Ich pflegte mit einer Reihe von Freunden zu den Plumpsklos zu gehen. Als ob Kinder Haus spielen und eines plötzlich fragt: ,Wer möchte Verstecken spielen?‘ und die anderen hinterherrennen. Auf die selbe Weise liefen wir alle hinterher, wenn irgendjemand einen Ausflug zum Plumpsklo vorschlug… .“
„Seite an Seite zu kauern und sich zu unterhalten, hat sehr viel Vergnügen bereitet. Während wir in unserem nur schwach beleuchteten Versteck hockten und kleine Körner Dung ausschieden, die widerspiegelten, was wir gegessen hatten, sorgten unsere trivialen Geschichten für Höhenflüge der Fantasie und riefen theatralische ,Oohs‘ und ,Aahs‘ hervor.“
„Hast du von Kapsuns Hund gehört? Er hatte sechs Junge, aber hör dir das an! Der Hund hat ein gelbes Fell, aber keines der Jungen ist gelb – es gibt nur Jungen mit schwarzem, weißem und weißem Fell mit schwarzen Punkten.“
Dies sind die Erinnerungen, die wir behalten wollen.
(Anmerkung: Bei den deutschen Übersetzungen der Zitate aus ,Who Ate Up All the Shinga?' handelt es sich um keine autorisierten Übersetzungen).
Von Gregory C. Eaves
Redakteur, Korea.net
Fotos: Literature Translation Institute of Korea, Columbia University Press
geeaves@korea.kr