1999 wagt der 58-jährige Hyun Ki-Young einen Rückblick auf seine Jugend. Er unterteilt den Rückblick nicht in Kapitel, sondern verwendet kurze Themenüberschriften, denen drei- bis fünfseitige Passagen zugeordnet werden. Das 330-seitige Buch „One Spoon on This Earth" (‚Ein Löffel auf dieser Erde‘) enthält über 150 dieser Kurzpassagen. Die längste ist die letzte Passage „Returning Home“ (‚Nach Hause zurückkehren‘) – eine 10-seitige Erzählung über seinen Weggang aus Seoul und seine Rückkehr auf die Insel Jeju. Man kann Hyuns Buch aufschlagen und jede erdenkliche Passage lesen, um den Kern des Beschriebenen zu erfassen. Alle Themen beschäftigen sich mit seiner Kindheit und Jugend in den 1940ern, 1950ern und 1960ern.
„One Spoon on This Earth" wurde 1999 geschrieben und 2013 von Jennifer M. Lee ins Englische übersetzt. Es ist Teil der Library of Korean Literature (Bibliothek für koreanische Literatur), herausgegeben vom Dalkey Archive.
In Zeiten unbeholfener Unschuld führen uns die Geschichten in die Berge, ans Meer und beschreiben das Zusammenspiel von Kindern. Es gibt Hungerperioden, dürre Erde und einen knurrenden Bauch. Es werden Stürme beschrieben, Regenschauer und Dachmonster in der Nacht. Die Leser werden zurückschrecken, wenn sie lesen, wie der Erzähler in der Nase bohrt, und sie werden zu Tränen gerührt sein, wenn er beschreibt, wie die Menschen auf Jeju auf Initiative der modernen südkoreanischen Regierung enthauptet oder ihnen die Ohren abgeschnitten werden.
In der englischsprachigen Version werden Hyuns Worte mit „The Cheju Massacre" (‚Das Massaker von Jeju‘) übersetzt. Wikipedia nennt es den „Jeju-Aufstand“. Die moderne koreanische Regierung verwendet erwartungsgemäß die harmlose Formulierung „Das Ereignis von Jeju vom 3. April“ (1948). Ich nenne es eine Graswurzelbewegung für Demokratie und Freiheit, die sich gegen eine faschistische, zutiefst totalitäre Regierung in Seoul richtete, die sich aus Kollaborateuren, in Shanghai ansässigen Verbrechern und Schurken zusammensetzte. Welche Worte auch immer man verwendet, der Aufstand dauerte von April 1948 bis Mai 1949 und kostete über 30.000 Menschen das Leben: Familien flüchteten auf die Hügel, Dörfer wurden niedergebrannt und andere Gräueltaten begangen, wie die Massengräber beweisen.
Der Autor Hyun erinnert an Familien, die vor den Truppen der Regierung in Seoul flohen, die hoch in den Bergen lebten, in permanentem Schnee, ohne Aussicht auf eine Rückkehr in ihr Zuhause. Er erinnert an die Krähen, die tote Körper fraßen. Erinnert sich an aufgespießte Köpfe. Er erinnert an den rabiaten jungen Mann, der von der neuen südkoreanischen Regierung entsandt wurde und sich verhielt wie die kaiserlichen Truppen Japans in Nanjing und anderswo auf dem chinesischen Festland. Für abgeschnittene Ohren gab es eine Belohnung.
Hyun durchlebt all das und erzählt darüber. Er war 8 Jahre alt, als das alles endete. Die Diktatoren der südkoreanischen Regierung verschleierten alles und erfanden Lügen. Erst mit der Etablierung der Demokratie Ende der 1990er Jahre wurde der Bevölkerung von Jeju erlaubt, ihre ermordeten Familienangehörigen zu betrauern. Das moderne Museums-Monument im Gedenken an das Massaker – „3. April Friedenspark“ genannt – ist besonders bewegend. 2006 hat der südkoreanische Präsident Roh Moo-hyun Jeju besucht und sich bei den Inselbewohnern für die Verwicklung der Regierung in das Massaker entschuldigt.
Mit Unterstützung des Literature Translation Institute of Korea (LTI Korea) gibt das Dalkey Archive die Library of Korean Literature heraus.
Hyuns Buch ist das zweite der Library of Korean Literature-Serie, die vom Dalkey Archive herausgegeben und vom Literature Translation Institute of Korea (LTI Korea) unterstützt wird. Am kafkaesken Ende dieses Spektrum stehen die verrückten, deprimierenden, dunklen Geschichten, die beschreiben, wie leer und hohl die moderne südkoreanische Gesellschaft ist, geprägt von Selbstmorden, Tod und schreiender Wut. Autoren wie Lee Kiho („At Least We Can Apologize" 2009) und die Autorin Han Kang ("The Vegetarian" 2007/Die Vegetarierin, 2016) gehören in diese Kategorie.
„One Spoon on This Earth" (1999) von Hyun Ki-Young ist ein Band über das Aufwachsen im ländlichen Teil der Insel Jeju zu einer Zeit, als die Insel noch relativ einzigartig war und über eine von der koreanischen Halbinsel und von der neuen Regierung in Seoul abgekoppelte Identität besaß. Wenn Sie Ihre Großeltern besser verstehen wollen, lesen Sie „One Spoon on This Earth".
Eine Bemerkung zum Buch: Das Buch beginnt mit dem Tod von Hyuns Vater, an dessen Sterbebett. Der erste Spoon (Löffel)-Bezug wird auf Seite 5 hergestellt. Hyun schreibt über seinen Vater, dass „er seinen Löffel ein für alle Mal abgegeben hat …“.
In der Geschichte taucht auch ein Mann namens Yi Tokku (이덕구) auf, der als Freiheitskämpfer den Protest der Einwohner von Jeju gegen das militärische Vorgehen der neuen südkoreanischen Regierung – ganz zu schweigen von den US-Streitkräften - anführt. Autor Hyun beschreibt Yis Tod wie folgt: „… Er hatte seine Arme ausgestreckt und sein Kopf lag auf der Seite. Aus seinem Mund und seinem Ohr war Blut geflossen und geronnen. Sein Gesicht sah friedlich aus, als würde er schlafen. Sein Mörder hatte einen Löffel in die Tasche des Getöteten gesteckt, um ihn zu verspotten, aber niemand lachte ….“ Es scheint, als gäbe es immer zumindest einen Löffel auf dieser Erde.
Bitte berücksichtigen Sie, dass die Insel Jeju zu dieser Zeit offiziell dem Rechtssystem der US-Militärregierung in Korea unterstand, und dass hier die Verantwortung für Gesetz und Ordnung auf der Insel lag.
Dennoch bewegt sich Hyuns Geschichte aus dem Umfeld der Grausamkeiten heraus. Er fährt fort, die für Kinder und Jugendliche wichtigen Dingen zu beschreiben: schwimmen, kleine Tiere fangen, spielen. Wir durchleben seine Jugend mit ihm.
Das Buch wurde 2013 von Jennifer M. Lee ins Englische übersetzt: „One Spoon on This Earth" und mit Unterstützung des LTI Korea im Dalkey Archive herausgegeben - wie schon erwähnt. Die englische Übersetzung ist allzu einfach und enthält ungeschickte Redewendungen eines englischen Sprachstils aus den 1950er Jahren, die eigentümlich klingen. Sie enthält im gesamten Buch eine inakzeptable Zahl an Tippfehlern: zwei oder drei alle 10 Seiten.
Nichtsdestotrotz sind es bewegende Szenen, Charakterskizzen und Erinnerungen an eine ländliche Jugend, die Hyun beschreibt. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen, aber wir können an gut geschriebenen Erinnerungen teilhaben.
Von Gregory C. Eaves
Redaktion Korea.net
gceaves@korea.kr