Younghi Pagh-Paan, 80, gilt als Pionierin der koreanischen Neuen Musik und erste Frau mit einer Kompositionsprofessur in Deutschland. Ihre Werke verbinden koreanische und westliche Klangtradition ⓒ Si-Chan Park (2006)
Von Ehrenberichterstatterin Michèle Kanewa aus Deutschland
Als die letzte Note von Younghi Pagh-Paans "Sori" in der Berliner Philharmonie verklungen war, erhob sich die Komponistin von ihrem Platz – gestützt von Helfern, aber mit ungebeugter Würde. Der Saal explodierte in minutenlangen stehenden Ovationen. Blumen wurden überreicht vom koreanischen Botschafter. Es war, als würde sich die Philharmonie selbst verneigen, nicht nur vor einer Künstlerin an ihrem 80. Geburtstag, sondern vor der Kraft einer Musik, die das Unaussprechliche hörbar macht.
Han: Die Seele eines Volkes als Klang
Am 23. September 2025 feierte das Busan Philharmonic Orchestra unter Seokwon Hong den Abschluss des Musikfests Berlin. Doch das Programm war weit mehr als eine Geburtstagsfeier. Es war eine musikalische Auseinandersetzung mit Han (한). Jenem tief in der koreanischen Kultur verwurzelten Gefühl, das schwer zu übersetzen ist: kollektiver Schmerz, unterdrückter Kummer, aber auch die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Heilung. Han ist das emotionale Erbe einer Nation, die Kriege, Besatzung und Diktaturen durchlitt. Es ist Trauer, die zu Kunst wird.
Sori: Wenn Trauma zur Komposition wird
"Sori" bedeutet Stimme, Klang, Schrei – alles zugleich. Als Pagh-Paan 1980 an diesem Werk arbeitete, erreichten sie Nachrichten vom Gwangju-Massaker: Die Militärdiktatur hatte bis zu 2.000 Demonstranten getötet. Die Komponistin, deren Bruder bereits im Koreakrieg gefallen war, fragte sich: Was kann Kunst gegen solche Gewalt ausrichten?
Ihre Antwort wurde "Sori" und damit auch Han in einer musikalischen Form. Das Werk beginnt mit tiefen, brütenden Klängen, die wie ein dunkler Strom dahinfließen. Plötzlich: brutale Fortissimo-Einbrüche. Holzbläser steigen auf wie Schmerzensschreie. Das Busan Philharmonic Orchestra ließ hören, was diese Musik so einzigartig macht: Pagh-Paan verwendet 32 verschiedene Schlaginstrumente, darunter eine buddhistische Tempelglocke aus Korea, Trillerpfeifen (erst nach dem Massaker hinzugefügt) und sogar getrocknete Erbsen in einer Bongo-Trommel. Diese Klänge verschmelzen mit den Techniken der westlichen Avantgarde zu einer Musik, die gleichzeitig koreanisch und universal ist.
Kurz vor Schluss entfesselt sich die Partitur: Marschrhythmen und kakophonisches Chaos machen die Gewalt von Gwangju körperlich spürbar. Dies ist Han als musikalisches Trauma, als roher, unverarbeiteter Schmerz.
Die Reise zur Heilung
Doch der Abend folgte einer bemerkenswerten Dramaturgie. Von "Sori" (1980) führte der Weg zu Pagh-Paans jüngstem Werk "Frau, warum weinst du? Wen suchst du?" (2023). Nur sieben Minuten lang, aber von immenser emotionaler Dichte. Hier verarbeitet die Komponistin den Verlust ihres Ehemanns Klaus Huber und die eigene schwere Erkrankung.
Der Titel stammt aus dem Johannes-Evangelium, doch Pagh-Paan interessiert nicht die religiöse Geschichte, sondern der Trost, den ein trauernder Mensch erfährt. Die Musik ist nun verdichtet, kontrolliert, nach innen gewendet. Han hat sich transformiert: von explodierendem Schmerz zu stiller Trauer, die auf Heilung hofft.
Ben Kim: Verlust als schöpferische Kraft
Eine besondere Verbindung zum Thema entstand durch den in Berlin lebenden Pianisten Ben Kim, Sohn koreanischer Eltern. Er spielte Ravels Konzert für die linke Hand – komponiert für Paul Wittgenstein, der im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte.
Kim gestaltete die monumentale Solokadenz, in der eine Hand leisten muss, was normalerweise zwei tun, mit berührender Intensität. Ist das nicht eine Metapher für Han selbst? Aus Verlust und Einschränkung Schönheit schaffen, weitermachen, wenn etwas Wesentliches fehlt. Die sieben Partiturseiten, in denen das Orchester schweigt und der Pianist allein mit seiner "Unvollständigkeit" steht, wurden zu einem Akt künstlerischer Selbstbehauptung.
Vom Dunkel zum Licht
Die zweite Konzerthälfte bot weitere Perspektiven auf Überwindung. Messiaens "L'Ascension" (1933) steigt in seinen vier Sätzen tonal aufwärts (E-Dur, F-Dur, fis-Moll, G-Dur) und bildet musikalisch eine Himmelfahrt ab. Das Orchester aus Busan spielte diese christliche Meditation mit beeindruckendem Klangreichtum.
Sibelius' Siebte Sinfonie bildete den Abschluss: erdig im Klang, leidenschaftlich im Ausdruck, atmeten alle Musiker gemeinsam. Der musikalische Verlauf des Abends, von den schweren, traumatischen Klängen in "Sori" zur spirituellen Erhebung bei Messiaen bis zur weiten, offenen Klanglandschaft bei Sibelius, spiegelt vielleicht auch Koreas eigene Geschichte: von Diktatur und Massaker zu Demokratie und kultureller Blüte.
Ein Vermächtnis der Hoffnung
Younghi Pagh-Paan ist Pionierin in doppelter Hinsicht: 1994 wurde sie als erste Frau in Deutschland Kompositionsprofessorin (in Bremen) und sie integrierte koreanische Musikelemente substantiell in die westliche Neue Musik. Ihr Schaffen ist zutiefst humanistisch. Geprägt von der Auseinandersetzung mit Gewalt, Unterdrückung und der Frage, wie Kunst darauf antworten kann.
Als sie an diesem Abend aufstand – 80 Jahre alt, von Krankheit gezeichnet –, war das mehr als eine Ovation für eine Komponistin. Es war eine Anerkennung dessen, was ihre Musik leistet: Sie macht Han hörbar und teilbar. Sie verwandelt kollektiven Schmerz in kollektive Erfahrung, vielleicht sogar in Katharsis.
Das Busan Philharmonic Orchestra, 1962 gegründet und damit drittältestes Orchester Koreas, bewies unter seinem künstlerischen Direktor Seokwon Hong nicht nur technische Exzellenz, sondern auch tiefes Verständnis für die emotionalen Unterströmungen dieser Musik – ob in den koreanischen Werken Pagh-Paans oder in der europäischen Literatur.
Und vielleicht ist das die schönste Botschaft dieses Abends: Han ist nicht nur Schmerz. Han ist auch Hoffnung. Die Hoffnung, dass aus dem Schrei ein Gesang werden kann. Dass aus Schmerz Musik wird, die heilt.
Das Busan Philharmonic Orchestra unter Leitung von Seokwon Hong beim Musikfest Berlin in der Philharmonie – ein Abend zu Ehren der Komponistin Younghi Pagh-Paan ⓒ Michèle Borcherding
Dieser Artikel wurde von einer Korea.net-Ehrenberichterstatterin verfasst. Unsere ehrenamtlichen Reporter kommen aus der ganzen Welt und teilen ihre Liebe und Leidenschaft über alle Dinge in Korea.
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