Prof. Dr. You Jae Lee: "Der unbeendete Krieg und die Sehnsucht nach Frieden auf der koreanischen Halbinsel"
Stacheldraht und Wunsch-Bänder für Frieden und Einheit im 1972 erbauten Imjingak-Park nahe der militärischen Demarkationslinie auf südkoreanischer Seite (Foto: Stefanie Grote)
Dieses Jahr gedenken die Koreaner des 70. Jahrestags seit Beginn des Koreakrieges am 25. Juni 1950. Die inoffizielle Bezeichnung lautete in Südkorea lange: „Krieg vom 25. Juni“. So eindeutig, wie der Zeitpunkt des Ausbruchs bestimmt sein sollte, stand auch der Auslöser des Krieges bereits fest, bevor Historiker durch die neu zugänglichen Archivmaterialien in den 1990er Jahren in Russland diese Behauptung belegt haben. Der amerikanische Historiker Bruce Cumings hat jedoch schon früh darauf hingewiesen, dass ein Bürgerkrieg nicht mit einem Startschuss beginnt. Die Ursachen des Krieges liegen tiefer und reichen bis in die Kolonialzeit zurück.
Angesichts der Tatsache, dass der Krieg auch nach 70 Jahren nicht beendet ist, dass er die politischen und gesellschaftlichen Belange der beiden Koreas bis heute maßgeblich prägt, scheint die Frage nach dem Auslöser für den Krieg nicht mehr so relevant. Die Frage, wie der Krieg zu beenden und ein Frieden auf der koreanischen Halbinsel zu erreichen ist, steht im Vordergrund der Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Der Waffenstillstand von 1953 hat vorerst die Kriegshandlungen ruhen lassen, ohne dass ein klarer Sieger daraus hervorgegangen wäre. Die Pattsituation ist der Grund für die anhaltende Spannung. Zudem haben nicht die beiden Koreas als souveräne Staaten den Waffenstillstand bilateral unterzeichnet. Dass Südkorea daran nicht beteiligt war, stattdessen die UNO unter Führung der USA und auch die Volksrepublik China neben Nordkorea die Vereinbarung unterzeichnet haben, zeigt, dass der Krieg im weiteren Verlauf von einem Bürgerkrieg zu einem internationalen Krieg geworden ist. Daher liegt die Überwindung des Krieges nicht nur in den Händen der beiden Koreas allein. Dass Nordkorea in erster Linie mit den USA verhandeln will, begründet sich darin, dass die USA deren Vertragspartner von 1953 waren. Die Koreafrage ist also keine nationale, sondern eine internationale Frage. Das macht den Friedensprozess nicht einfacher.
Das Erbe des Krieges kommt noch erschwerend hinzu. Der Krieg hat über vier Millionen Todesopfer gefordert. Der lang anhaltende Bombenkrieg hat die Städte und Industrieanlagen verwüstet. Die Zivilbevölkerung musste mehrmals flüchten, Familien wurden auseinandergerissen. Getrennte Familien waren nicht nur zwischen Nord und Süd zu finden, sondern auch innerhalb Südkoreas. Gegenseitige Massaker auf dörflicher Ebene spalteten die Menschen bis in die kleinsten gesellschaftlichen Einheiten.
Nordkorea-Flüchtlinge waren oft in gewaltbereiten Jugendorganisationen vertreten und bekämpften die Linken in Südkorea bereits vor dem Koreakrieg. Unter ihnen waren viele Christen aus der Mittelschicht, die ihre antikommunistische Gesinnung religiös begründeten. Diese unheilsame Allianz zwischen Nordkorea-Flüchtlingen, Antikommunisten und Christen begünstigte die Etablierung der autoritären und diktatorischen Regime in Südkorea bis in die 1980er Jahre, die im Gegenzug Demokratie und Zivilgesellschaft unterdrückten. Nordkorea und dessen Gefahr wurden immer wieder zur eigenen Regimesicherung und Ausschaltung von Regimekritikern genutzt. Die sogenannte Ostberlinaffäre von 1967, im Rahmen derer 17 Südkoreaner*innen durch den südkoreanischen Geheimdienst aus Westdeutschland entführt und in Südkorea mit dem Vorwurf der Spionagetätigkeit für Nordkorea vor Gericht gestellt wurden, führte auch dem Westen vor Augen, mit welcher Brutalität der Antikommunismus in Südkorea praktiziert wurde. Das südkoreanische Regime war auf die Existenz des nordkoreanischen Regimes angewiesen, um seine eigene Existenzberechtigung zu legitimieren. Und für Nordkorea war es umgekehrt genauso. Dieses gegenseitige Angewiesensein beider Koreas bildete ein Teilungssystem, in dem sie feindlich integriert waren. Eine der großen Errungenschaften der südkoreanischen Demokratisierungsbewegung bestand darin, sich partiell von diesem Teilungssystem zu lösen. Die Loslösung von dem Regime-Credo „Wer gegen mich ist, ist für den anderen“ war nicht einfach und forderte viele Opfer.
Einige Kritiker haben die totale Überwindung des Teilungssystems mit einer Wiedervereinigung gleichgesetzt. Solange die Teilung besteht, produziert sie immer wieder gesellschaftliche Widersprüche und würde zusätzliche Kosten verursachen. Es ist etwas Wahres an dieser Position. Vielleicht singen sogar die Kinder deshalb das Lied „Unser Wunsch ist Wiedervereinigung, sogar im Traum ist unser Wunsch Wiedervereinigung.“ Andererseits, ist der Koreakrieg nicht die Folge des Wunsches nach Wiedervereinigung gewesen? Und hat dieser Wunsch nicht ironischerweise die Teilung zementiert, weil eine Wiedervereinigung die Ausschaltung des anderen Systems suggerierte?
Das deutsche Wiedervereinigungsmodell ist in dieser Hinsicht nicht weiterführend. Die Südkoreaner sehen den Beitritt der neuen Bundesländer als deren Absorption durch Westdeutschland. Aber genau dieses Denkmodell hat die Beziehung zwischen Nord- und Südkorea gelähmt.
Es ist an der Zeit, die Wiedervereinigung von der Prioritätenliste zu streichen und einen Friedensvertrag an deren Stelle zu setzen. Eine Entkopplung des Friedens von der Wiedervereinigung würde die Anerkennung der Existenzberechtigung beider Teilstaaten vorausschicken. Interessanterweise beobachten wir auf der zwischenstaatlichen Ebene zwischen Nord- und Südkorea eine diskursive Verschiebung von der Wiedervereinigung hin zum Frieden. Während des ersten Gipfeltreffens im Juni 2000 zwischen Kim Dae-jung[1] und Kim Jong-il[2] stand die Wiedervereinigung sehr prominent in der gemeinsamen Erklärung. Beim letzten Gipfeltreffen im September 2018 zwischen Moon Jae-in[3] und Kim Jong-un[4] war mehr von Frieden auf der koreanischen Halbinsel die Rede als von der Wiedervereinigung. Ich sehe das als eine Entwicklung in die richtige Richtung. Denn nach 70 Jahren ist das Kriegsende und damit die Friedenssicherung wichtiger als die unmittelbare Wiedervereinigung. Sie kann warten. Das ist die Lehre aus 30 Jahren deutsche Einheit.