WENN DIE ERINNERUNGEN VERSAGEN
Young-ha Kim taucht ein in den Kopf eines dementen Killers in „Aufzeichnungen eines Serienmörders“
„Meinen letzten Mord habe ich vor fünfundzwanzig Jahren begangen. Oder waren es sechsundzwanzig?“ Mit diesen Worten beginnt der Roman „Aufzeichnungen eines Serienmörders“. Es spricht der Killer selbst – Kim Byongsu, siebzig Jahre alt, lebt in einem abgeschiedenen Haus am Rande eines Dorfes. Früher war er Tierarzt. Seiner Ansicht nach der ideale Beruf für einen Mörder, denn auf diesem Wege kam er an Medikamente, die selbst Elefanten in Schlaf versetzen. Viele Menschen hat er getötet und ihre Körper im Bambuswald hinter seinem Anwesen vergraben. Doch nach einem Autounfall ist es nun schon seit Jahren mit dem Morden vorbei. Byongsus letztes Opfer war die Mutter von Unhi. Ihr gab er das Versprechen, Unhi als seine Tochter großzuziehen.
Aber nun ist er ein alter Mann, und auch wenn sein Körper noch stark ist, sein Geist verlässt ihn. Die Diagnose: Alzheimer. Stück für Stück verschwinden Byongsus Erinnerungen, immer der Reihe nach, erst die neueren, dann die älteren. Um sich selbst am Vergessen zu hindern, beginnt er, seine Erlebnisse aufzuschreiben und später mit einem Aufnahmegerät aufzuzeichnen.
Genau in dieser Zeit taucht ein Mann im Ort auf. Park Jutae. Bei einem kleinen Zusammenstoß erkennt Byongsu den anderen sofort: Dieser Kerl mit dem für die Jagd gepimpten Jeep ist wie er – ein Mörder. Könnte er etwa der gesuchte Killer sein, der seit kurzem sein Unwesen in der Gegend treibt? Byongsu will sich aus der Sache heraushalten, doch dann bekommt er einen bösen Verdacht. Ist etwa Unhi das nächste Opfer? Byongsu schmiedet einen Plan: Um Unhi zu schützen, muss er einen letzen Mord begehen.
Young-ha Kims Roman erschien bereits 2013 im koreanischen Original, nun liegt er im Cass Verlag auch in deutscher Übersetzung vor und zeigt eindrücklich, warum Kim einer der erfolgreichsten Schriftsteller Südkoreas ist und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Tief taucht er ein in den Kopf des Serienkillers und erkundet aus der Ich-Perspektive, was geschieht, wenn jemand, der zahlreiche Leben geraubt hat, seine Erinnerungen verliert und das Chaos in seinem Kopf täglich größer wird. Lakonisch und emotionslos kommt der Text daher. Passend, denn der Protagonist tut sich schwer mit Emotionen. Doch immer wieder bricht auch tiefschwarze Komik durch, wenn etwa Unhi sich erkundigt, wo ihre leibliche Mutter sei, und Byongsu ihr in Gedanken antwortet, dass sie sich im Bambushain hinter dem Haus befände.
Kim bedient sich verschiedener Erzählformen, mischt Berichte, Erzählungen und Erinnerungsfetzen mit philosophischen Einschüben über Nietzsche und Literatur. In einem Lyrikkurs schreibt Byongsu über seine Morde. Der Dozent behauptet, ein Dichter sei wie ein geübter Mörder. Byongsu widerspricht. Für ihn ist Mord nur mit Prosa zu vergleichen, denn es sei viel mühseliger und schmutziger, als man denke. Doch weil der Dozent ihn gelobt habe, so Byongsu, habe er ihn am Leben gelassen.
Was ist wahr an den Berichten eines Dementen? Kann man jemandem trauen, dessen eigene Erinnerungen ihn im Stich lassen? Der in seinem Kopf gefangen ist wie in einem Gefängnis, nach dem Byongsu sich heimlich sehnt? Er, der nie geschnappt wurde in den Wirren rund um den Koreanischen Krieg? Je weiter die Geschichte voranschreitet, desto stärker tritt diese Frage in den Vordergrund, desto mehr verschwimmen Realität und Wahrnehmung von Byongsu. Geschickt weckt Young-ha Kim das Misstrauen seiner Leserschaft. Kann man Byongsus Worten wirklich trauen? Wie passend, dass es gen Ende heißt: „Beängstigend ist nicht das Böse, sondern die Zeit. Denn gegen sie sind wir alle machtlos“. Die Genres verschlingen sich. Mal ist dieses Werk ein packender Krimi, mal das Nachdenken über Leben und Tod. Fesselnd bleibt es bis zum letzten Satz.
Urteil der Jury:
“Die Rezension beeindruckt durch ihr sprachliches Niveau und die Souveränität, mit der die Autorin die Komplexität des Romans interpretiert. Schraders Verweis auf Lakonik und schwarzen Humor hat uns besonders gefallen. Die Freiheit zu eigenen Formulierungen lässt die Rezension zu einem Lesevergnügen werden.”