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KULTUR & GESELLSCHAFT

NUNCHI, DER SECHSTE SINN KOREAS

Nunchi (눈치) ist ein koreanischer Begriff, der sich auf die Fähigkeit bezieht, bei sozialen Interaktionen indirekte Kommunikation mit Leichtigkeit zu interpretieren und sein Verhalten daran auszurichten. Mentale Zustände des Gegenübers werden erfasst und adäquat beantwortet. Nunchi bedeutet wortwörtlich „Augenmaß“. Das Konzept von Nunchi wurde vermutlich erstmals im 17. Jahrhundert unter dem Wort „nunch'ŭi (眼勢)“ gegenwärtig. Der Begriff Nunchi beinhaltet mehrere Definitionen, sodass es selbst für Koreaner schwierig ist, Nunchi zu erklären. Für Menschen, die mit dem Kulturkreis nicht vertraut oder hier beheimatet sind, ist es so gut wie unmöglich, dieses Konzept nachzuvollziehen.

Ein Austausch mit Koreanern ist unerlässlich, um diesem Phänomen näherzukommen. Im Ergebnis dieser Annäherung lässt sich sagen, dass Nunchi die Fähigkeit beschreibt, seine Umgebung, die jeweilige Situation, die Intention und Emotionen des Gegenübers schnell zu erfassen. Die Atmosphäre des Moments wird analysiert und das eigene Verhalten dementsprechend angepasst. Einzelne Stimmen bezeichneten Nunchi als eine grundlegende und notwendige Fähigkeit, die koreanische Gesellschaft verstehen und darin leben zu können.

Nunchi fußt nicht zuletzt auf dem Konfuzianismus, der die koreanische Gesellschaft von jeher prägt. Hierarchie und Respekt werden in Korea großgeschrieben, was auch im Konzept von Nunchi deutlich wird. Der Druck, gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen, Nunchi zu besitzen und anzuwenden, lastet stärker auf jüngeren als auf älteren Menschen und mehr auf Frauen als auf Männern. Nunchi steht in engem Zusammenhang mit Kibun (기분), was auf Deutsch „Stimmung“ oder „Gefühl“ bedeutet. In der Öffentlichkeit wird großer Wert auf den Kibun gelegt, was auch bedeutet, Konflikte möglichst zu vermeiden. Bei Nunchi wird also sehr darauf geachtet, ein gutes Kibun zu bewahren und mit dem eigenen Verhalten und Handeln die Stimmung des Gegenübers nicht zu trüben oder Gefühle zu verletzen.

Foto von Trung Thanh auf Unsplash

Im weiteren Bemühen um die Beschreibung des scheinbar Unbeschreiblichen zeigte sich auch, dass Nunchi mehr noch als innerhalb der Familie oder unter Freunden in der „Außenwelt“ bedeutsam ist. Am Arbeitsplatz beispielsweise zählt die Gemeinschaft der Kollegen mehr als die persönliche Meinung eines Einzelnen. Es ist wichtig, Vorgesetzten Respekt entgegenzubringen, sein Verhalten anzupassen, Nunchi zu haben: „눈치 있다“ (Nunch'i itta).  „눈치 없다“ (Nunch'i ŏpta) hingegen ist eine Person, die kein Nunchi besitzt.
Ein gutes Beispiel für eine solche Person ist beispielsweise ein Schüler, der kurz vor Ende der Unterrichtsstunde Fragen stellt oder den Lehrer an einen Test oder an Hausaufgaben erinnert. In Deutschland würden wir so jemanden wohl als „Streber“ oder „Lehrerliebling“ bezeichnen. Im Gegensatz dazu würde ein Schüler mit Nunchi (Nunch'i itta) sich zurückhalten, um Lehrer und Mitschüler nicht über die Unterrichtszeit hinaus aufzuhalten. Selbstverständlich würde eine kategorische Zuweisung von Nunch'i itta und Nunch'i ŏpta zu kurz greifen, da die Ausprägung einer Sensibilität für den jeweiligen Moment situationsbedingt unterschiedlich ausfällt. Hier soll es primär darum gehen, ein Phänomen zu beschreiben. Neben Nunch'i itta und Nunch'i ŏpta gibt es auch Verweise auf „눈치 느리다“ (Nunch'i nŭrida) und „눈치 빠르다“ (Nunch'i pparŭda). Nunch'i nŭrida bedeutet so viel wie „langsames Nunchi“ und meint eine Person, die Nunchi zwar besitzt, es jedoch versäumt, klare Hinweise sofort wahrzunehmen. Nunch'i pparŭda heißt „schnelles Nunchi“ und beschreibt eine Person, die in der Lage ist, sogar subtile Hinweise sofort aufzunehmen.

Nunchi hilft dabei, rücksichtsvoll mit anderen Menschen, deren Gefühlen und Stimmung umzugehen – etwas unstrittig Gutes. Bei kritischer Betrachtung befördert es zuweilen jedoch auch ein allzu angepasstes Verhalten eines weitgehend „unsichtbaren“ Individuums. Personen mit „zu viel“ Nunchi werden außerdem dafür kritisiert, übermäßig strategisch zu sein.

So sei bei aller positiver Annäherung an eine erstaunliches und vielseitiges Gesellschaftskonzept auch ein kritischer Blick auf ein Phänomen erlaubt, das etablierte Hierarchien weiterhin festzuschreiben und zum Widerspruch kaum zu ermutigen vermag.

Bild von Kira Kmiec

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Foto: privat

Kira Kmiec

studiert seit 2018 Koreastudien und Ostasienwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Sie interessiert sich sehr für die koreanische Kultur und Gesellschaft und absolvierte 2021 ein Praktikum am Koreanischen Kulturzentrum.