„Willkommen in der realen Welt”.
Der Mann mittleren Alters lächelt dem jüngeren Mann im Anzug zu. Der Ältere hat den Jüngeren zu einer Gruppe streikender Gewerkschaftsaktivisten gebracht, die vor ihrem früheren Arbeitsplatz gegen ihre unfaire Entlassung protestieren. Neben den Polizeibeamten, die den Vordereingang des Unternehmens blockieren, gibt es eine Gruppe von Männern, die wie Gangster aussehen und den Streik mit brutalen Methoden aufgelöst haben.
Dies sind nicht die Neun-Uhr-Nachrichten. Es ist eine Szene aus der Fernsehserie „Songgot“ oder „Awl“. Darin geht es um den Kampf der Belegschaft eines großen Supermarkts, die gegen ihren Arbeitgeber protestiert, der sie mit unfairen Mitteln entlassen möchte. Arbeiterrechte, Gewerkschaften, Streiks: All dies scheint vielleicht nicht in eine Fernsehserie zu passen. „Songgot“ macht das Ganze jedoch real. Durch ihre lebensnahe Beschreibung der Gewerkschaftsszene und Einsichten in das menschliche Verhalten hat die Serie die Empathie und Bewunderung vieler Zuschauer gewonnen.

„Songgot” ist eine Fernsehserie mit Seltenheitswert, welche die Geschichte von Arbeiterrechten und einer Gewerkschaft erzählt. Sie ist unterhaltsam, gut gemacht und basiert auf einem gleichnamigen Onlinecomic. Der Produzent gibt an, dass es am wichtigsten für ihn gewesen sei, bei der Adaption des Comics fürs Fernsehen die Stimmung des Originals beizubehalten.
Die neuesten gut gemachten und unterhaltsamen Fernsehserien basieren auf Onlinecomics
Jedes kleine Detail, von den dargestellten Personen bis zu ihren Gesprächen, wurde aus den Comicvorlagen möglichst originalgetreu übernommen. Die Fernsehserie „Songgot“ ist die Fernsehadaption eines gleichnamigen Onlinecomics, der von Choi Gyu Seok gezeichnet wurde und seit Dezember 2013 immer am Dienstag veröffentlicht wird. Von den Lesern werden die meisten dieser Comics mit 9,9 von 10 möglichen Punkten bewertet. 2014 wurde der Comicstreifen vom Leiter der koreanischen Comiczeichnervereinigung ausgezeichnet. „Songgot“ hat sowohl Lob als auch Kritik erhalten. Der Produzent der Fernsehsendung sagte, dass es sein Ziel gewesen sei, „so viel vom Original wie möglich auf den Fernsehbildschirm zu übertragen, ohne dass die Stärken des Originals verlorengehen.“
„Songgot” ist nicht die erste oder einzige Fernsehserie, die auf einem Comicstreifen basiert, die auf Koreanisch „Webtoons” genannt werden. Es gibt eine Komödie, „Das Mädchen, das Gerüche sieht”, eine Fantasyserie, die von einem Gelehrten aus dem Joseon-Reich (1392-1910) handelt, der eigentlich ein Vampir ist („Der Gelehrte, die in der Nacht umherläuft”), und die romantische Komödie „Hogus‘ Liebe“. Aus dem Comic „Käse in der Falle”, von dem schon lange gemunkelt wurde, dass aus ihm ein Fernseh- oder Kinofilm gemacht werden solle, wurde eine TV-Serie produziert - die darauf wartet, Anfang nächsten Jahres ausgestrahlt zu werden. Wenn man bedenkt, dass die koreanische Comic- oder Cartoonindustrie erst vor etwa 10 Jahren eine Flaute wegen Onlinepiraterie hatte, ist dieser neue Erfolg ziemlich überraschend. Er ist natürlich der Veröffentlichung von Comics im Internet und dem Einsatz neuer Medien zu verdanken.

Der Onlinecomicstreifen „Käse in der Falle” wurde in eine Fernsehserie umgewandelt und soll nächstes Jahr ausgestrahlt werden. Nach einer Reihe von Fernsehadaptionen von Comicstreifen rätseln Comicleser heute oft darüber, welche Schauspieler und Schauspielerinnen sich am besten für die Darstellung bestimmter Comic-Helden eignen könnten.
Wie sich Onlinecomics in den letzten zehn Jahren weiterentwickelt haben
Von den späten 1990er bis zu den frühen 2000er Jahren schien das schnelle Wachstum des Internets nicht sehr hilfreich oder günstig für die Comicindustrie. Illegale Scans von Comics oder Graphic Novels wurden unter anonymen Lesern ausgetauscht und trafen die Comicindustrie hart. Auch wenn einige Verleger kürzlich versucht haben, ihre Comics im Internet als e-Books zu verkaufen, wollten viele Leser, die Comics illegal heruntergeladen hatten, nicht weiter für das Lesen eines Comicstreifens bezahlen.
Inzwischen sind neue Generationen von Comiczeichnern auf der Bildfläche erschienen. Diese Künstler haben ihre Comics auf ihren persönlichen, selbst betriebenen Websites veröffentlicht. Einige dieser Comics wurden schnell sehr populär. Jeder, der Comiczeichner werden wollte, konnte nun seine eigenen Arbeiten publizieren. Früher mussten diejenigen, die Comiczeichner werden wollten, einen Wettbewerb gewinnen, der von einem Comicverleger durchgeführt wurde, und sie mussten jahrelang bei bekannten Comiczeichnern in die Lehre gehen. Kang Pool, einer der berühmtesten und erfolgreichsten Künstler, aus dessen Werken zum Großteil Filme produziert wurden, begann seine Karriere beispielsweise als Amateurcomiczeichner, der seine Comics häufig auf seiner Website veröffentlichte.

„Hallo Schulmädchen” (2008) (links) und „Der Nachbar” (2012) (rechts) sind beides Filmadaptionen von Comics von Kang Pool. Der Amateurcomiczeichner, der gewöhnlich seine Kreationen auf seiner eigenen Website veröffentlichte, ist eine der bekanntesten Persönlichkeiten in der Branche.
Nachdem immer mehr Comiczeichner ins Internet gingen, hat sich das Format für Onlinecomics und Graphic Novels verändert. In den frühen Jahren behielten die Onlinecomics ein Buchformat bei, da der Großteil der Comics, die ins Internet gestellt wurden, ursprünglich für gedruckte Bücher gezeichnet wurde, die gebunden wurden; sie waren nicht in erster Linie für eine Website bestimmt. Die Leser mussten die Seiten umblättern, wie in einem echten Buch. Nachdem die Zahl der Comics zunahm, die im Internet publiziert wurden, dachte man über ein, diesem Medium angepasstes „Scroll down“-Format nach, das sowohl bei Künstlern als auch bei Lesern des ursprünglichen Papiercomics Akzeptanz fand.
Die Comic-Künstler werden nun förmlich dazu gedrängt, ins Internet zu gehen. Finanzkräftige Internetkonglomerate, die den Erfolg der Onlinecomics vorhersagten, locken in wettbewerbsorientierter Manier berühmte Künstler mit exklusiven Verträgen, während sie talentierten Amateurkünstlern Möglichkeiten bieten, ihre Arbeiten auf ihren Websites zu veröffentlichen, die hohe Besucherzahlen haben. Vor allem haben die Onlinekonglomerate jede Ausgabe kostenlos angeboten. Ein neues Wort wurde erfunden und verwendet, um diese neue Art der Storytelling-Graphic-Kunst zu beschreiben: „Webtoons“.
Smartphones sorgen für einen weiteren Aufschwung der Onlinecomics
Webtoons, die ein stetiges Wachstum erlebt haben, sind dank der Smartphones zu einer riesigen Industrie herangewachsen. Die Apps, die auf wöchentlicher Basis jeden Tag der Woche unterschiedliche Cartoons anboten, wurden standardisiert. Die Genres der Webtoons wurden vielfältiger: Neben Komödien gab es nun auch Thriller, Liebesgeschichten, Dramen und sogar Fantasygeschichten. Es tauchten immer mehr Webtoons auf. Sie ersetzen die Papiercomicbücher des vorherigen Jahrzehnts vollständig. So war es nur natürlich, dass die gut gezeichneten Comics mit ihren starken Handlungen Filmemacher und Fernsehproduzenten anzogen.
Onlinecomics, die einst als einfacher Zeitvertreib betrachtet wurden, haben sich nun zu einer der größten Inspirationen für Kino-, Fernsehfilme und selbst für Videospiele entwickelt. Der Erfolg der Internetveröffentlichung von Comicstreifen produzierte sogar einen Ableger – Web-Erzählungen – was ein eigenes Genre ist, das wöchentlich im Internet publiziert wird. Webtoons verändern sich, wachsen mit der Zeit und werden sich weiterentwickeln.
Von Chang Iou-chung
Redakteur, Korea.net
Fotos: JTBC, tvN, Naver Webtoon, Line Webtoon
icchang@korea.kr
Koreanische Webtoons können auch in anderen Sprachen gelesen werden
Einige koreanische Online-Comics können auch in anderen Sprachen gelesen werden.
Line Webtoon (http://webtoons.com) bietet rund 300 Comics in fünf verschiedenen Sprachen an, auch auf Englisch und in vereinfachtem Chinesisch. Internationale Leser können dank einer ganzen ,Armee' freiwilliger Amateurübersetzer nicht jeden, aber viele Comics in ihrer eigenen Sprache lesen. Die meisten Comics auf der Website sind kostenlos.

Bei Line Webtoon kann man Comics in fünf unterschiedlichen Sprachen lesen. Die Plattform, die auf
wöchentlicher Basis aktualisiert wird, bietet auch internationale Dienstleistungen an.
Tapastic (tapastic.com) veröffentlicht auch koreanische Comics in englischer Sprache, darunter „Season of Su“.
Chinesische Leser können koreanische Comicstreifen auf chinesischen Websites lesen und dabei chinesische Anwendungen benutzen. Auf dem Portal QQ.com sind einige koreanische Comics zu finden, einschließlich des Horrorcomics „0.0MHz”, der von chinesischen Lesern großartige Kritiken erhielt.
Lezhin Comics, ein koreanischer Webtoon-Anbieter, stellt seine Comics in japanischer Sprache auf seiner japanischen Website zur Verfügung (lezhin.com/jp).