Kultur

18.03.2016

Kurzgeschichten sind wie…

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Begeben Sie sich selbst in eine duale Welt, in der alle entweder 1s oder 0s, schwarz oder weiß sind. Es gibt keine Nuancen und keine Grauzonen. Wenn Sie irgendwo zwischen 1 und 50 landen, fallen Sie in die 0-Box. Wenn Sie irgendwo zwischen 51 und 100 landen, werden sie alle in der 1-Box gruppiert. Zwei Kategorien; es gibt kein Dazwischen.

Dann versuchen Sie, diese duale 1-0-Einheit anzuwenden auf etwas, das so komplex ist wie Humanität und auf etwas, das so differenziert und fein ist wie die Existenz. Legen Sie den gesamten Regenbogen der menschlichen Emotionen in eine dieser beiden Boxen. Geben Sie jede Persönlichkeit, jeden Exzentriker, jedes Liebespaar und jeden Psychopathen in eine dieser beiden Boxen. Teilen Sie die gesamte Welt in zwei Teile; nur in zwei Teile. Teilen Sie die ganze Welt in 1s und 0s oder in „mein“ Land und „dein“ Land. Diese Teilung kann weiter vorangebracht werden, in moderne Zeiten, indem die Welt in eine neue und eine alte Welt geteilt wird, Stadt und Land, Eltern und Kinder, Nebel und Sonne, in Friedens- und in schlechten Zeiten.

Zunächst mag dies wie eine einfache Teilung aussehen, wie eine Unterteilung zwischen unserer rechten und linken Hand, zwischen Frau und Mann, zwischen Tag und Nacht. Allerdings eignet sich eine solche Beurteilung und Kategorisierung der Welt in zwei Gruppen für ein träges Denken. Dies sind gefährliche Teilungen, weil sich die runde Säule der Existenz nicht in das rechtwinklige Loch der von uns gewählten Kategorien einfügen lässt. Wie die Lava neben Krakatau, wie unterdrückte Gefühle nach einem Trauma, wie Tränen nach einer Trennung werden wir beginnen zu kochen und bald explodieren. Wir werden uns unsere Augen auskratzen, weil wir zu viel gesehen haben und nicht genug sehen können.

Dies ist die große zweigeteilte Last der Existenz, und dies ist es, worüber Kim Seungok (김승옥) (geb. 1941) in seinen beiden Kurzgeschichten „Record of a Journey to Mujin" (Okt. 1964) und „Seoul: 1964, Winter" (Juni 1965) erzählt. Er hat diese beiden Kurzgeschichten im Alter von 22 bzw. 23 Jahren im World of Thought magazine (Sasangye) veröffentlicht. Seine Welt in Seoul war in Aufruhr. Soldaten hatten 1961 gerade die Macht ergriffen. Der Staat hat versucht, bevorzugte Industrien zu finanzieren. Eine neue Welle junger Autoren schwappte über das literarische Feld in Seoul.

Kims beiden Kurzgeschichten vermitteln uns einen kurzen Eindruck von der koreanischen Welt Mitte der 1960er Jahre. Bei der einen handelt es sich um ein Märchen über einen Mann, der für eine Woche in seine Heimatstadt zurückkehrt. Die andere spielt in der Bar-Szene von Seoul mitten im kalten Winter. Beide bieten sich als kleines Fenster an, das Kurzgeschichten über dem Leben der Protagonisten öffnen können. Allerdings zeigt dieses Fenster der Kurzgeschichte, das Kim Seungok öffnet und dann wieder schließt, viel mehr als nur eine Reise nach Hause oder einige schäbige Bars. Es zeigt die dichotome Last der Existenz: Wir sind nicht einfachen Kategorien zuzuordnen.

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„Record of a Journey to Mujin” wurde ursprünglich im Oktober 1964 im Word of Thought magazine veröffentlicht. Verlagshäuser in Asien haben 2012 sowohl eine Version auf Koreanisch als auch auf Englisch herausgegeben.



Historische Zeiten

Seoul war Mitte der 1960er Jahre turbulent. Der vielschichtige Bruderkrieg war etwa ein Jahrzehnt zuvor beendet worden. Eine über zehn Jahre alte Angst hatte sich über Südkorea gelegt. Nationalistische Konzepte waren eng verbunden mit antikommunistischen Konzepten und verringerten die Zahl der koreanischen Stimmen, die sich in der Gesellschaft hätten Gehör verschaffen können. Korea war immer noch arm und nicht das reiche Land, das wir heute kennen. Es hatte jeden Wohlstand eingebüßt, den es in den 1920er bis 1940er Jahren aufgebaut hatte. Die Kombination aus Krieg und Kleptokratie sicherten diesen Status.

Ein eigensinniger, korrupter, beängstigender und paranoider älterer Mann unter der strikten Kontrolle der Regierung wurde durch Märsche im April 1960 aus seinem Amt vertrieben; die Märsche waren größtenteils von Studenten und Professoren angeführt worden. Ein kleiner, zäher, bäuerlicher Militärbeamter übernahm das Amt 1961. Seine Oberste Behörde für den nationalen Wiederaufbau (국가재건최고회의) regierte das Land von 1961 bis 1963. Der erste Fünf-Jahres-Wirtschaftsplan wurde 1962 umgesetzt. 1963 tauschte der Mann seine Uniform gegen einen Anzug und wurde „Präsident“. 1965 wurde ein Truppenstatut mit dem US-Militär ausgearbeitet. Ein Vertrag mit Japan wurde ebenfalls 1965 geschlossen.

Zurück in Seoul hatte sich die Zahl der Einschreibungen an Kollegs und Hochschulen seit den 1940er und 1950er Jahren vervierfacht. Die meisten Universitäten und alle guten Universitäten waren in Seoul. Jeder Vater des Landes träumt davon, seinen Sohn für eine höhere Bildung nach Seoul zu schicken. Die jungen männlichen Studenten lebten in eingeengten, überall präsenten Studentenheimen, den Hasuk-jip (하숙집), jenseits der elterlichen Disziplin und der väterlichen Kontrolle.

Die Universitäten verlangten nicht viel von den Studenten und damit auch nicht von den Professoren. Die Universitäten platzten aus allen Nähten, und die Professoren vereinten auf sich zu viele Studenten; sie ließen den Unterricht so oft ausfallen wie die Studenten. In der Oberschule hatten die Studenten zuvor wie Sklaven gearbeitet. Den Großteil der Bildung, die sie für ihre Karriere benötigten, hatten sie dort erhalten, sodass sie es in der Universität langsamer angehen lassen konnten. Allerdings achteten sie darauf, weiterhin an der Universität oder Graduiertenschule eingeschrieben zu sein, insbesondere in den Geisteswissenschaften oder den Literaturfächern, da es nur wenige Jobs gab. Seoul war Mitte der 1960er Jahre immer noch eine recht kleine Stadt und jeder schien jeden zu kennen.

Es waren diese Studenten und Professoren, die sich an den Märschen beteiligten und dafür sorgten, dass die Despoten aus ihren Ämtern vertrieben wurden. Es waren auch diese Studenten und Professoren, mit denen der neue starke Mann – aus einer unteren Gesellschaftsschicht und selbst Landwirt, ein Mann der wenigen Worte und messbaren Resultate – konfrontiert wurde, als er seine Kontrolle über den Staat festigte.

Die Seoul-Politik der späten 1950er und Mitte 1960er Jahre war eine elitäre Angelegenheit, aufgestachelt von dieser dünnen Schicht aus Universitätsstudenten und gelehrsamen Männern. Diese Studenten und belesenen Männer spielten eine spezielle Rolle in der städtischen koreanischen Gesellschaft – und spielen sie bis heute, wenngleich etwas reduzierter. Dies ist zu unterscheiden von der Würde und dem Mut, der in den rauhen Menschen wohnt, die das moderne Korea aufgebaut haben: die enorme Macht der Arbeiterschaft. Dies ist eine Art von „falschem Literaten-Respekt“ oder zumindest von „Respekt“ für Menschen, die Bücher als ihre wichtigste Waffe einsetzen, im Gegensatz zu einem Schraubenzieher oder einer Schweißmaschine.

Diese untätige Klasse gebildeter junger Männer mit einem ausgeprägten Gespür für die eigene Privilegierung saß herum und diskutierte über große Dinge. In Seoul war damals eine aktive und lebendige intellektuelle Atmosphäre spürbar. Die beiden führenden politischen und literarischen Magazine waren Creation & Criticism (창작과 비평), die 1960 eine Auflage von 18.000 hatten, und World of Thought (사상계). Wir wissen, dass letzteres gut gewesen sein muss, weil es oftmals von der Regierung verboten wurde. Als Chang Myon (장면) 1960 Premierminister war – nachdem Rhee ins Exil gegangen war und bevor Park einen Staatsstreich durchführte - gab es 100.000 Journalisten in dem Land und die meisten von ihnen in Seoul, wie der Historiker Gregory Henderson bemerkt. Jeder las und schrieb.

Um zusammenzukommen trafen sich all diese Männer in Seouls „Teestuben“. Unter diesem Begriff verstand man sämtliche Einrichtungen von Bars über Bordelle bis zu Konzerthallen und Coffeeshops, und diese Elitestudenten haben sich dort getroffen, um bei Musik, Alkohol und in Anwesenheit von Prostituierten über jedes politische Gerücht, jeden literarischen Trend und jede Veranstaltung im Land zu sprechen. Aus diesen Zusammenkünften gingen geheime Studentenclubs hervor, die vornehmlich Politikwissenschaften und Philosophie studierten und vom selben Campus kamen und derselben Gesellschaftsschicht angehörten. Nehmen Sie all diese unbeschäftigten Studenten und vermischen Sie sie in einem zunehmend politisch gefärbten literarischen Umfeld. Dann geben Sie alle „Teestuben“ und kleinen Clubs hinzu. Das war ein aufregendes Gemisch, jederzeit bereit zu explodieren.

Als die neue Schule im März 1960 ihre Arbeit aufnahm, hatte die Fakultät für französische Literatur an der Seoul National University einen neuen Mitstreiter: den 19-jährigen Kim Seungok. Er war ein politisch engagierter Autor und bereit, seine Zeit zu beschreiben, Wort für Wort, Zeile für Zeile. Tatsächlich war Kim Karikaturist bei der Zeitung „Seoul Economic Daily“ und veröffentlichte seine erste berühmte Kurzgeschichte 1962 in der Zeitung „Korea Daily“ (‚Hankook-ilbo‘, 한국일보).

1964 veröffentlichte Kim Seungok „Mujin”. Seine Leser kauften „World of Thought”, um durch seine Kurzgeschichten einen Eindruck von der großen Dichotomie zu bekommen. Die neu errichtete Polizeidienststelle verschärfte ihre Haltung gegenüber der Gesellschaft, das Zeitalter der Industrialisierung begann, mit Japan wurde Frieden geschlossen, und Korea begann seine endgültige Achterbahnfahrt im 20. Jahrhundert.

Dichotomie der Existenz

Mache sagen, dass es sehr belastend ist, Koreaner zu sein. In der Tat ist es fraglich, ob Menschen sich wirklich dafür entscheiden würden, Koreaner zu sein, wenn sie nicht durch den Zufall ihrer Geburt ohnehin Koreaner wären. Diese Gesellschaft nimmt sich dieser neuen Menschen an und setzt sie den Eltern, der Schule, dem Militärdienst und der Medienwelt aus und lehrt sie, Koreaner zu sein. Menschen werden dahingehend unterrichtet, an eine imaginierte Gemeinschaft Koreas zu glauben. Die postkoloniale globalisierte Mischung der Kulturen, Völker und Menschen, die sich Ende des 20. Jahrhunderts entwickelt hat – d.h. Nationalismus: diese ach so moderne Religion des 20. Jahrhunderts –macht es auf bestimmte Weise leichter „Koreaner“ zu sein. Sie sind nur eine weitere Farbe des Regenbogens. Andererseits werden Sie nun mit der Frage konfrontiert, wie man beides sein kann: Koreaner und Weltbürger. Macht Sie das Tragen eines Hanboks allein schon zum Koreaner? Ist das Essen eines Hamburgers ein Indiz dafür, kein Koreaner zu sein?

Philosophen wie Jamal ad-Din al-Afghani (자말 압딘 알 아프가니), Liang Qichao (량 치차오, 양계초, 梁啓超) und Rabindranath Tagore (라빈드라나트 타고르) haben viele ähnliche Fragen gestellt. Wie bewahren Sie Ihre Identität in einer Welt, die von und für den Westen gemacht ist? Was ist Gemeinschaft und wie passt sie in eine Welt der vielen Gemeinschaften?

Die Art, wie Menschen sich selbst als Koreaner verstehen und die Art des Denkens über die imaginierte Gemeinschaft der Koreaner bildet den Kern der beiden Kurzgeschichten. Wer bin ich? Was bin ich? Warum bin ich hier? Kim versucht all diese Fragen zu ordnen in Gestalt eines Hauptcharakters, der für kurze Auszeit in seine ländliche Heimat reist, und in Form eines anderen Protagonisten, der sich mit seinen neuen Freunden in einer kalten Winternacht in verschiedenen Bars trifft. Kurzgeschichten sind kurze Einblicke in unsere Leben.

Im koreanischen Kino und der koreanischen Literatur gibt es Achsen, die sich stets wiederholen: Stadt/Land, Festland/Insel, Entwicklung/Unterentwicklung, Modern/Vormoderne, Gegenwart/Vergangenheit. Dieser duale Bereich wird offenbar, wenn man den Ruf Ihrer Heimatstadt mit dem Ruf der Heimatstadt einer anderen Person vergleicht; oder Ihre Grundschule mit der Grundschule einer anderen Person; Ihre Hochschule mit der Hochschule einer anderen Person; Ihre Universität mit der Universität einer anderen Person, Ihre Wehrdiensteinheit mit der Wehrdiensteinheit einer anderen Person. Übertragen auf den modernen Konsumismus zeigt er sich im Vergleich Ihrer Handtasche mit der Handtasche einer anderen Person; Ihrer Schweizer Uhr mit der Schweizer Uhr einer anderen Person; Ihres importierten Markenautos mit dem importierten Markenauto einer anderen Person. Die Beispiele sind unendlich. Die Gesellschaft lebt immer weiter fort. Das kann in den Fenstern der Kurzgeschichten gesehen werden, die von 1964 und 1965 von Kim Seungok geöffnet wurden. Die Last, Koreaner zu sein, trägt sich fort.

Kim selbst

Der Autor Kim Seungok war 19 Jahre alt, als das Chaos der Zweiten Republik Südkorea fesselte. Zum Zeitpunkt des ersten Staatsstreichs war er 20 Jahre alt. Mit 23 Jahren schrieb er die Kurzgeschichte „Record of a Journey to Mujin". Sein Debüt hatte er nur zwei Jahre zuvor, 1962. Er war 24 Jahre alt, als er „Seoul: 1964, Winter" schrieb.

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Kim Seungok wurde 1941 geboren und ist bekannt für seine Kurzgeschichten und andere Arbeiten, die er Mitte der 1960er Jahre schrieb. Er wird bis heute viel gelesen.



Wie eine Hyazinthe, die blüht und dann vergeht schrieb Kim Seungok (geb. 1941) im Alter von 21 bis 25, also zwischen 1962 und 1966, über 10 Kurzgeschichten, Essays, Drehbücher und Novellen. Seine Geschichten wurden mit der Veröffentlichung in Seouls Zeitungen und Literaturmagazinen berühmt, und ein Großteil seiner Werke wird heute noch gelesen. Kim führte die Autoren-Bewegung Anfang/Mitte der 1960er Jahre an, die die Arroganz ehemaliger Diktatoren satthatte und die härterer Gangart des neuen fürchteten. Er schrieb über die rapide verlaufende Urbanisierung und die Realität des Lebens inmitten dieser schnell wachsenden, neuen Städte. Er schrieb darüber wie der Mensch in diesen Zwischenraum von Stadt und Land, von Moderne und Vergangenheit passte.

Schreiben war seine Stärke. Mit seinen beiden berühmtesten Kurzgeschichten fing er den Zeitgeist ein. Es gibt mindestens zwei englischsprachige Versionen von „Mujin“ – beide haben weniger als 10.000 Wörter und 54 Seiten.

Der Kinofilm „Mist“ („Angae", "안개") aus dem Jahr 1967 basiert auf „Record of a Journey to Mujin". Kim Seungok selbst hat an der Vorbereitung des Drehbuches gearbeitet. Der Film ist auf YouTube in voller Länge zu sehen und auf dem koreanischen YoutTube-Kanal mit englischen Untertiteln versehen.

Dies sind die beiden einzigen Werke, die auf Englisch erhältlich sind. Asiatische Verleger haben eine ‚Zweisprachige Ausgabe moderner koreanischer Literatur‘ herausgegeben – eine Reihe mit koreanischen Kurzgeschichten in den beiden Sprachen Koreanisch und Englisch. „Mujin“ wurde von Kevin O'Rourke übersetzt und 2012 veröffentlicht.

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‚Land of Exile' wurde 2015 von Routledge veröffentlicht. Die Kurzgeschichte von Kim Seungok ist die fünfte in dieser Sammlung.



„Seoul: 1964, Winter" ist Teil des E-Books „Land of Exile: Contemporary Korean Fiction -- Expanded Edition" und kann bei Amazon erworben werden.

Ob Tschechow, Hemingway oder Kim Seungok – Kurzgeschichten sind wie ein kurz geöffnetes Fenster des Verstehens in Bezug auf das Leben der Charaktere; dann ist das Fenster wieder geschlossen. Wir sehen eine Frau mit ihrem Hund. Wie sehen einen Sohn und einen Vater beim Angeln. Wir sehen einen Mann, der für kurze Zeit in seine Heimatstadt zurückkehrt, um eine Auszeit zu nehmen. Wir dringen nicht bis in die Tiefe vor, wir bekommen nicht Dickens, nicht Dostojewski, nicht Dumas. Ein Fenster öffnet sich. Ein Fenster schließt sich. Wir werden geboren und dann sterben wir: Das ist die ultimative Dichotomie.

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Von Gregory C. Eaves
Korea.net Staff Writer
Fotos: Asia Publishers, Namu Wiki, Routledge
gceaves@korea.kr