Stellen Sie sich einen Roman wie Camus’ „Der Fremde“ (1942) vor. Er behandelt die Absurdität des Lebens und des Existentialismus, während der Mensch das Leben, Beziehungen, Beerdigungen, Morde, Tode durchwandert.
Stellen Sie sich eine literarisches Werk wie Kafkas Romanfragment „Der Prozess“ (1925, posthum veröffentlicht) vor. Es handelt von der Kürze unserer Lebensspanne, dem Abspulen von Prozessen, die unseren Alltag beherrschen, der Bedeutungslosigkeit solcher Prozesse, der Nichtigkeit unserer alltäglichen Ereignisse und dem vollständigen Fehlen von Kontrolle im größeren Kontext aller Dinge.
Stellen Sie sich einen Roman wie Bulgakows „Der Meister und Margarita“ (1967) vor. Er handelt von einer langen, satirischen Konversation mit dem Tod. Ein Mann auf einer Parkbank spricht mit dem Teufel und seziert die Gesellschschaft auf satirische, hämische Weise.
Oder stellen Sie sich vielleicht sogar einen Roman wie Gogols „Die toten Seelen“ (1842) vor. Er handelt von den Schwächen und Fehlern der Gesellschaft, in der der Autor lebt, sowohl der kapitalistischen als auch der kommunistischen, von korrupten Politikern, schwindelnden Idealisten, einem Schulterzucken, als Sie erkennen, dass die Welt um Sie herum verrückt ist.
Die vier oben genannten Zutaten werden zusammengerührt, um ein schmackhaftes Gericht daraus zu kochen: Daraus entsteht Choi In-huns „Der Platz“ (veröffentlicht im Literaturmagazin „Dawn" im November 1960). Der Roman „Der Platz“, den der Autor verfasste, als er 24 Jahre alt war – in einem Jahr, als man in Südkorea gefährlich lebte, als auf den Straßen Seouls Revolutionen und Staatsstreiche stattfanden – enthält das Selbstgespräch eines jungen Mannes, der die großen Fragen des Lebens stellt: über das Universum und alles andere.
„Es ist nichts Außergewöhnliches daran, Myong-jun. Sie haben keine andere Wahl, als zu leben.“ (S. 65)
„Der Platz“ wurde ursprünglich im Literaturmagazin „Dawn“ veröffentlicht, im November 1960, als das Leben in Südkorea gefährlich war.
„Der Platz“, der nicht so sehr den Charakter eines Romans, sondern eher den einer Abhandlung hat, folgt Lee Myong-jun, während er versucht herauszufinden, worum es im Leben geht, warum wir hier sind und wie man sein Leben am besten lebt. Er ist in Südkorea. Er ist mit einer Frau zusammen. Er ist in Nordkorea. Er ist mit einer anderen Frau zusammen. Dann bricht er zu weit entfernten Stränden auf – zu Stränden, die wir alle irgendwann sehen werden, aber die wir im Moment nicht sehen können.
Bevor wir fortfahren, eine Anmerkung zur Übersetzung: Der Übersetzer der englischsprachigen Übersetzung hat als Titel „The Square“ (,Der Platz’) gewählt. Eine bessere Wahl wäre allerdings „Die Agora“ gewesen, wenn Sie sich mit dem Griechischischen vertraut fühlen oder „Das Forum“, wenn Sie sich eher das Römische bevorzugen. Vielleicht sogar „Der Plaza“, wenn Ihnen das lieber ist. Der koreanische Originaltitel „광장“/ „廣場“ impliziert einen öffentlichen Platz, an dem eine Debatte stattfinden kann. Diese Nuance – einer Konversation, einer Interaktion zwischen menschlichen Wesen, mein persönlicher Raum und der öffentliche Raum – kommt viel stärker durch Begriffe wie „Agora“ oder „Forum“ zum Ausdruck als durch den „Platz“.
Das Schlüsselzitat bezüglich dieses Diskurses über den Unterschied zwischen persönlichem und öffentlichem Raum taucht auf S. 42 des 147-seitigen Buches in einer Unterhaltung zwischen unserem Protagonisten, Lee Myong-jun, und seinem Freund Herrn Chung auf (Hier verwende ich den Begriff „Agora“ anstelle von „Platz“). Choi schreibt: „Die Menschheit kann nicht in einem geschlossenen Raum leben. Die Menschheit gehört zur Agora. Die Politik ist der unerfüllteste Ort in der Agora der Menschheit. In westlichen Ländern übernehmen die christlichen Kirchen die Rolle des heiligen Wassers, das die Politik reinwäscht von ihren Sünden... Insbesondere in Koreas politischer Agora haben sich Exkremente und Müll angesammelt. Dinge, die allen gehören sollten, werden egoistisch für eigene Zwecke beansprucht. Blumen am Straßenrand werden für die Blumenvase zu Hause gepflückt, öffentliche Wasserhähne werden entfernt, um sie zu Hause ins eigene Badezimmer einzubauen, Pflastersteine werden ausgegraben, um sie zu Hause als Küchenboden zu verwenden.
Der menschliche Körper ist vermutlich der Schatten der Einsamkeit, der durch menschliche Leere entsteht.... Das Leben ist der Sohn der Einsamkeit, der keine vergessenen Dinge lernen kann." (S. 70)
Das Zitat ist ziemlich lang. Es geht über drei Seiten. Herr Chung befragt Myong-jun über die Politik, und er setzt zu einer Hetzrede an – mehr zu einem Monolog, um ehrlich zu sein -, die über drei Seiten geht. Herr Chung fragt ihn auf S. 42: „Wie wäre es, wenn du dich in die Politik zu stürzt?“. Drei Seiten später beendet Choi Myong-jun seinen Monolog, indem er sagt: „Die Antwort auf das Rätsel ist ein Paradox. Es ist darin zu finden, dass der gute Vater und die schlechte öffentliche Person ein und die selbe Person sind. Niemand bleibt in der Agora. Wenn die notwendigen Plünderungen und Fälschungen enden, ist die Agora leer. Die Agora ist tot. Ist das nicht Südkorea?“ (S. 44)
Interessanterweise beginnt die Hetzrede unmittelbar, nachdem Myung-jun eine echte Mumie aus dem alten Ägypten zu sehen bekommt, eine kürzliche Neuanschaffung von Herrn Chung. Mit einer Metaphorik, die so unverblümt ist wie die Mary Shelleys in „Frankenstein“ (1818) oder so schonungslos wie die von Bulgakow in „Der Meister und Margarita“ (1967) lässt der Autor Choi seinen Protagonisten Myong-jun – buchstäblich – dem Tod ins Gesicht starren. Was kann einen 24-jährigen Schriftsteller stärker an den Tod erinnern als ein toter menschlicher Körper?
„Es ist ein großer Fehler, wenn eine Person annimmt, dass eine andere sie versteht. Ein Mensch kann nur sich selbst verstehen.“ (S. 64)
Während Myong-jun versucht, mehr über sein Leben herauszufinden, läuft er durch Seoul, wird er von der Polizei befragt, hat er Schuldgefühle über Sex und Liebe, ist er unbeeindruckt vom Leben im Süden, schleicht er sich in den Norden, wo er Journalist für ein kommunistisches Magazin wird. Er verliebt sich, wird von Mitgliedern der kommunistischen Partei verhört, hat Schuldgefühle über Sex und Liebe, ist unbeeindruckt von der Existenz im Norden, wird in den Süden in den Koreakrieg geschickt, trifft seine alte Liebe auf dem Schlachtfeld wieder, strandet in einem Kriegsgefangenenlager für koreanische und chinesische Soldaten, nachdem er von den USA und den UN-Truppen gefangengenommen wurde, ruft fünf Mal hintereinander vor Kommunisten und Kapitalisten „Ich möchte ein neutrales Land!“ aus, schließt Freundschaft mit einem indischen Kapitän, sieht die Schönheit von Victoria Harbour bei Nacht und entschwindet dann im wässrigen Sonnenuntergang. Bewegend, menschlich, emotional, ausschweifend; ein Leser mit positiver Grundeinstellung würde denken, dass der Protagonist am Ende glücklich wird.
„Die unverwechselbare Abenddämmerung der Mandschurei war so atemberaubend, dass sie den Eindruck vermittelte, dass die gesamte Welt in einem prächtigen Feuermeer versunken sei.“ (S. 90).
Choi In-hun wurde 1936 geboren und veröffentlichte „Der Platz“ 1960 im Alter von 24 Jahren. Das Werk wurde 1966 mit dem Dong-in-Literaturpreis ausgezeichnet.
Bis zur S. 93 ist unser Protagonist nach Nordkorea geflohen, teilweise aus dem Schuldgefühl heraus, dass er Sex gehabt hat, aber vor allem, um eine neue Agora zu finden: einen neuen Raum für seine Existenz. Mit Träumen von der Leidenschaft als Revolutionär, mit einer Leidenschaft für seine Mitmeschen und dem Talent zum Politiker landet er in Südkoreas kommunistischem Bruderstaat.... und seine Träume werden zerstört. Im Norden gab es keine Agora.
„Was Myong-jun in Nordkorea entdeckte, war eine aschgraue Republik.Es war keine Republik, die in gespannter Erwartung einer Revolution lebte, keine Republik, die leidenschaftlich glutrot glühte wie der mandschurische Sonnenuntergang. Was ihn umso mehr überraschte, war, dass die Kommunisten weder Spannung noch Leidenschaft wollten. Das erste Mal, dass er eine klare Vorstellung vom Innenleben dieser Gesellschaft erhalten hatte, war bei einer Reise durch die großen Städte Nordkoreas bei einer Vortragsreise, die er im Auftrag der Partei durchführte, kurz nachdem er in den Norden gegangen war. Schulen, Fabriken, Bürgerhallen; die Gesichter, die diese Orte füllten, waren mit einem Wort leblos. Sie saßen einfach mit passivem Gehorsam da. Es gab keine Gefühle oder Emotionen auf ihren Gesichtern. Dies waren nicht die begeisterten Gesichter von Bürgern, die in einer revolutionären Republik leben.“ (S. 93)
Wenn man „Der Platz“ im Jahr 2016 liest und darin die Beschreibung von Nordkorea sieht, die 1960 verfasst wurde, kommt der Gedanke auf, dass 71 Jahre vergangen sind, seitdem das moderne Korea – Nord und Süd – ihre Unabhängigkeit erhalten haben. Es sind 68 Jahre vergangen, seitdem die Regierungen in Pjöngjang und Seoul gebildet wurden, unter der Aufsicht von der UdSSR und der USA. Seit dem Ende des Koreakriegs (1950-53) sind 63 Jahre vergangen. Es sind 44 Jahre vergangen, seitdem Südkoreas wirtschaftliches Wachstum mit dem dritten Fünf-Jahres-Plan (1972-1976) einen rasanten Aufschwung erlebte. Es sind 20 Jahre her, seitdem Südkorea der OECD beigetreten ist. Choi In-huns Beschreibung Nordkoreas von damals trifft auch heute noch zu.
Wenn es wirklich nur „ein Korea“ gibt, wie die Regierungen in Seoul und Pjöngjang glauben, und wenn beide behaupten, der Nachfolger des kolonialisierten Koreas zu sein, dann stellt dies Südkorea vor ein Problem. Auf der einen Seite ist die Regierung in Seoul die einzig moralische der beiden Regierungen. Trotz all ihrer Fehler ist sie die einzige Alternative, wenn man zwischen Seoul und Pjöngjang wählen muss. Auf der anderen Seite hat Südkorea Verpflichtungen aufgrund der nordkoreanischen Menschenrechtsverletzungen. Es ist die moralische Pflicht Seouls, die Menschen Nordkoreas von ihrem Unterdrücker zu retten. Dies würde nicht nur einige der Wunden heilen, die die südkoreanische Regierung selbst anderen zugefügt hat. Es würde auch dazu beitragen, ein weiteres Ergebnis der Jahre 1945-49 wieder zu begradigen: die Bildung einer kommunistischen Regierung in Peking und einer demokratischen in Taiwan.
„Dies war eine Gesellschaft, in der private Wünsche tabu waren. Dieser Code des Tabus verpestete die Luft der nordkoreanischen Gesellschaft. Die Partei unterjochte die Bevölkerung, als ob sie Kühe wären, die das Feld pflügen. Sie waren keine Bauern, sondern domestizierte Tiere. Wenn sie rannten, weil die Partei ihnen sagte, dass sie rennen sollten, taten sie dies mit minimalem Antrieb. Wenn es keinen Preis für den Gewinner gab, warum sollten sie dann mit voller Kraft rennen? Die Leute hofften einfach, dass sich ihr Joch eines Tages in einen Zauberstab verwandeln werde, der ihnen Freiheit und Wohlstand bringen werde. in der Agora von Nordkorea gab es keine Menschen. Dort gab es nur Marionetten.“ (S. 105).
„Formalitäten und die Unannehmlichkeiten einer vorbildlichen Etikette erschienen störend und bedeutungslos auf einem Schlachtfeld. Nachdem sie jeden Tag in unmittelbarer Nähe des Schattens des Todes lebten, griffen sie in ihren Körpern nach der Macht, die ihr Unwohlsein und ihre Qual zerstreuen konnte.“ (S. 128)
Choi In-huns Roman vermeidet jedoch geopolitische Überlegungen und hält sich an das Menschliche: an das vollkommen Menschliche. Wir befinden uns in Myong-juns Kopf, mit seinen Gefühlen und seinen Fragen über das Leben und seine Wünsche. Am Ende ruft er fünf Mal „ein neutrales Land!“ aus – indem er seine eigene Agora wählt – die am Ende des Romans wieder an den Beginn des Romans zurückspringt: auf ein Schiff für geflüchtete Kriegsgefangene, das das Südchinesische Meer durchfährt.
„Ein neutrales Land. Ein Ort, an dem Sie ein völlig Fremder sein werden. Ein Ort, an dem Sie den ganzen Tag auf der Straße herumlungern können, und niemand berührt Ihre Schulter, um ,Hallo!‘ zu sagen. Ein Ort, an dem niemand weiß oder wissen möchte, wer Sie sind und was Sie sind. Myong-juns Herz machte bei diesem Gedanken einen Sprung. Die Zukunft war spannend, als er über seine Anonymität fantasierte.“ (S. 145)
Am Ende war Myong-jun frei. Frei in seinem eigenen persönlichen Raum und frei von der existentiellen Agora.
Das LTI Korea unterstützt Dalkey Press darin, eine ganze Serie von koreanischer Literatur in englischer Sprache herauszubringen.
Anmerkung: Choi In-hun wurde 1936 geboren. Er schrieb „Der Platz“ im November 1960 im Alter von 24 Jahren. Der Roman wurde in „Dawn“, einem Literaturmagazin, veröffentlicht. „Der Platz“ wurde 1966 mit dem Dong-in-Literaturpreis ausgezeichnet. Das Dalkey Archive hat 2014 eine englische Version von „Der Platz“ herausgeben, mit Unterstützung der Illinois Arts Council Agency und des Literature Translation Institute of Korea (LTI Korea). Das Werk wurde von Kim Seon-kon, dem gegenwärtigen Präsidenten des LTI Korea, übersetzt.
Bei den deutschsprachigen Auszügen aus dem Roman handelt es sich nicht um offizielle Übersetzungen.
Von Gregory C. Eaves
Redakteur, Korea.net
Fotos: Literature Translation Institute of Korea
gceaves@korea.kr