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HISTORISCHESKULTUR & GESELLSCHAFT

AUF DER SPUR DES KOREANISCHEN TIGERS


„Es war einmal, als der Tiger noch Pfeife rauchte …“ ist das deutsche „Es war einmal vor langer Zeit …“, denn mit diesem Satz beginnen traditionelle koreanische Märchen.

Von der Steinzeit bis in das 20. Jahrhundert hinein war der Tiger ein fester Bestandteil der koreanischen Halbinsel, wo er 호랑이 (horangi) oder herkömmlich 범 (beom) genannt wird. In Deutschland ist der koreanische Tiger wahrscheinlich eher als Sibirischer Tiger oder Amur-Tiger bekannt.

Das damalige Korea war für seine besondere Beziehung zu den Tigern so berühmt, dass es von den umliegenden Ländern „Land der außergewöhnlichen Menschen, die den Tiger zu zähmen wissen" oder „Nation der Tiger“ genannt wurde. Heutzutage gibt es jedoch nur noch rund 500 wilde koreanische Tiger, die im Osten Russlands, im Nordosten Chinas und nahe der Grenze Nordkoreas leben.


EINE IKONE DER KOREANISCHEN GESCHICHTE UND KULTUR


Die „East Asian Art“, eine Sonderausstellung anlässlich der Olympischen Winterspiele in Pyeongchang 2018, zeigte eine verblüffende Bandbreite an Charakteren, die dem Tiger im Laufe der koreanischen Geschichte zugeschrieben wurden: Totemtier, Berggeist, Dämonenvertreiber, Elsternbegleiter, Tierkreiszeichenfigur, großer Gelehrter, Pfeifenraucher, Krieger, Freund, aber auch Idiot.

Foto: Mike Marrah auf Unsplash

Der Tiger wurde bereits im Dangun-Mythos, dem Gründungsmythos Koreas, erwähnt. Vor etwa 5000 Jahren sandte der Himmelsherr Hwanin seinen Sohn Hwanung, der auf der Erde leben wollte, auf den Berg Taebaek im heutigen Südkorea. Hwanung gründete auf dem Gipfel des Berges eine göttliche Stadt namens Sinsi. Eines Tages baten ein Tiger und ein Bär Hwanung, sie in Menschen zu verwandeln. Hwanung erfüllte ihre Bitte unter einer Bedingung: Bär und der Tiger sollten sich 100 Tage lang nur von Knoblauch und Beifuß, dem ersten Kimchi, ernähren, das Sonnenlicht vermeiden und in einer Höhle leben. Der Tiger gab schnell auf, aber der Bär hielt durch und wurde in eine Frau verwandelt, die Hwanung heiratete. Ihr Sohn Dangun Wanggeom gründete das erste koreanische Königreich Go-Joseon.

Auch wenn der Tiger in diesem Mythos nur eine Nebenrolle spielt, entwickelte er sich in den folgenden Jahrtausenden zu einem festen Bestandteil der koreanischen Geschichte.

Eine seiner wichtigsten Aufgaben war es, der Bevölkerung und ihren Dörfern Schutz zu bieten und den Frieden zu sichern. Dies geht aus den Annalen der Joseon-Dynastie (14. - 19. Jahrhundert) hervor. Auch einige Gemälde dieser Zeit zeigen Schutzgeister verschiedener Berge, die sich an einen Tiger lehnen oder auf dem Rücken des Tieres reiten, das von den Koreanern als treu und warmherzig charakterisiert wurde.

Rund um die Königsgräber Koreas ist der Tiger ebenfalls zu finden. Um den jeweiligen Herrscher nach seinem Tod zu schützen, wurden vor den Grabhügeln steinerne Tigerskulpturen aufgestellt.

Bilder von Schutzgeistern in Gesellschaft von Tigern wurden auch in buddhistischen Tempeln in Korea entdeckt. Im Buddhismus wird dem Tiger als Geisterwesen Willenskraft, Mut und persönliche Stärke zugeschrieben. Das Tigerfell steht für die Transformation von Wut in Weisheit und Einsicht und soll Meditierende vor äußerem Schaden und spiritueller Einmischung bewahren.

Der Tiger spielte auch eine Rolle in Ritualen, welche Regen auslösen sollten, um eine gute Ernte zu gewährleisten. Für dieses Ritual wurde der Kopf eines Tigers als Opfergabe verwendet. Später entstand die Bezeichnung „Fuchsregen“, eine koreanische Bezeichnung für den Regen bei Sonnenschein. Sie bezieht sich auf eine Legende, in der ein Tiger einen Fuchs heiratete, wodurch eine Wolke, die den Fuchs liebte, hinter der Sonne anfing zu weinen. Deshalb wird der Tag eines Sonnenschauers auch "호랑이 장가가는 날" (horangi jangga-ganeun nal), „Hochzeitstag des Tigers", genannt.

In der traditionellen koreanischen Volkskunst (Minhwa, 민화) war der Tiger ebenfalls ein wichtiges Motiv. Jedoch wurde er nicht so dargestellt, wie man es sich vielleicht vorstellt. Das laute Brüllen des Tigers fand so gut wie nie Eingang in diese Bilder. Im Gegenteil, der Tiger wurde meist mit menschlichen Gesichtszügen, ja sogar mit einem fröhlichen Grinsen porträtiert.

Auf manchen Gemälden wurde der Tiger auch mit Elstern und Hasen abgebildet. Aber warum?

Viele koreanische Volksmärchen handeln von Tigern und Hasen. Tiger sind Symbole der Macht, wurden aber auch als leichtgläubig und damit als Opfer von Hasen angesehen, die als schlaue Trickser bekannt waren. Die Geschichten handeln also meist von mächtigen, aber törichten Tigern, denen es nicht gelingt, einen Hasen zu fangen, da dieser immer wieder der Gefahr entkommt.


"Minhwa" im Koreanischen Kulturzentrum; Foto: Emily Matthey

Elstern hatten eine andere, eher politische Bedeutung. Kkachi horangi ist ein prominentes Genre des Minhwa, das Elstern und Tiger darstellt. In diesen Gemälden repräsentiert der Tiger, dem absichtlich ein lächerliches Aussehen gegeben wird (daher sein Spitzname „idiot tiger", 바보호랑이 (babo horangi)), die Autorität und die aristokratischen Yangban, Angehörige der herrschenden Klasse der Joseon-Dynastie. Die würdevolle Elster hingegen stellt den einfachen Mann dar. Deshalb gelten Kkachi horangi-Gemälde als Satire der hierarchischen Struktur der feudalen Gesellschaft von Joseon.

Es existieren auch viele Gemälde, auf denen Tiger eine Pfeife rauchen. Dies bringt uns zurück zum Satz: „Es war einmal, als der Tiger noch Pfeife rauchte …“. Damit wird etwas bezeichnet, das vor langer Zeit geschah. Überlieferungen zum Ursprung des Ausdrucks gibt es viele. Fakt ist jedoch, dass Tabak nicht vor 1618 nach Korea kam.

Auch in koreanischen Liedern wird der Tiger erwähnt. Besonders im Pansori (kor. 판소리), einem koreanischen Genre des musikalischen Geschichtenerzählens. Ein Beispiel dafür ist die Liebesgeschichte Chunhyangga, in der ein Tiger versinnbildlicht wird. In dieser wird der zaghafte Bräutigam Lee Mong-ryong, der seine bezaubernde Braut Chun-hyang nicht anzurühren wagt, mit einem Tiger verglichen, vor dem ein Stück Fleisch liegt, das er nicht genießen kann, da er alt und zahnlos ist.

Der Tiger galt in Korea jedoch nicht nur als friedliche Hauskatze. Viele Volksmärchen erinnern auch an die Konflikte zwischen Tigern und Menschen. In einer alten Geschichte heißt es, dass während der Silla-Zeit (57 v.u.Z. bis 935) ein Tiger in den schwer bewachten Königspalast eindrang. Plünderungen von Vieh waren damals für den Tiger auch keine Seltenheit, weswegen die Menschen begannen, ihn über Jahrhunderte hinweg zu jagen. Ein altes koreanisches Sprichwort beklagt: „Die Koreaner verbringen die Hälfte des Jahres damit, zu den Beerdigungen von Tigeropfern zu gehen, und die andere Hälfte damit, Tiger zu jagen".

Tragischerweise war der Tod von Koreas letztem wildlebenden Tiger der Vorbote für das Ende der koreanischen Einheit. In den Wirren der japanischen Besatzung, kurz bevor die Nation am Ende des Koreakrieges in zwei Teile zerfiel, verschwand der letzte lebende koreanische Tiger still und leise in der Folklore.


DER „MODERNE“ KOREANISCHE TIGER


Es ist Jahrzehnte her, dass in Südkorea ein Tiger gesichtet wurde. Laut einigen wenigen Gerüchten jedoch soll sich das mächtige Tier in den entlegensten Gebirgsketten Nordkoreas herumgetrieben haben.

Heutzutage kennen die meisten Koreaner nur noch den weißen Amur-Tiger Soohorang, das offizielle Maskottchen der Olympischen Winterspiele in Pyeongchang 2018. Als Luftballon konnte man ihn über den Stadien schweben und auf unzähligen Merchandise-Artikeln sehen.


Foto: Alicia Chong auf Unsplash

Neuerdings gibt es Pläne, den Tiger wieder auf der koreanischen Halbinsel anzusiedeln. Das Baekdu-Gebirgssystem, das sich auf einer Länge von ungefähr 1400km durch Nord- und Südkorea erstreckt, wäre ein perfekter Lebensraum. Da die meisten Berge Nordkoreas von Menschen unberührt sind, käme das seiner erneuten Ansiedlung zugute.

Jedoch wirft die Wiederansiedlung einige Probleme auf. Eine der vielen Herausforderungen ist, trotz des riesigen Gebirgssystems, der Platzmangel. Ein Tigerweibchen benötigt mehr als 400 Quadratmeter zum Leben. Umso kleiner der Lebensraum ist, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit eines Zusammentreffens von Tigern und Menschen. Außerdem wäre es für eine Wiederansiedlung notwendig, dass Süd- und Nordkorea Informationen über die Bewegungen der Großkatzen austauschen. Dazu jedoch müssten sich die innerkoreanischen Beziehungen verbessern, wozu die Wiederansiedlung des Tigers vielleicht sogar einen Beitrag leisten könnte. Auch eine Unterstützung des Schutzes der bestehenden Populationen in Russland und China sowie die Einrichtung von Tigerkorridoren zwischen China, Russland und Nordkorea könnten helfen.

Obwohl die Tiger nun schon lange nicht mehr auf der koreanischen Halbinsel zu finden sind, werfen ihre Geister noch immer Schatten in die Landschaft. Im Herbst, wenn sich die Gebirgshänge Koreas im bunten Herbstlaub färben, fällt es besonders leicht, sich die Anwesenheit des Tigers vorzustellen. Vielleicht kehrt Koreas Pfeife rauchender Tiger ja bald in seine alten Jagdgründe zurück.
 

Ausgewählte Quellen

Wikipedia contributors (2021): Tigers in Korean culture, Wikipedia, [online] https://en.wikipedia.org/wiki/Tigers_in_Korean_culture
Jackson, Ben (2018): Cultural Relic or Comeback Cat? In Search of the Korean Tiger, KOREA EXPOSÉ, [online] https://www.koreaexpose.com/search-korean-tiger/ 
Korean Tigers Back from the Brink of Extinction, but Not in South Korea (2014): ExpertSure, [online] https://www.expertsure.com/2008/11/24/korean-tigers-back-from-the-brink-of-extinction-but-not-in-south-korea/



 
Bild von Emily Matthey

Bild von Emily Matthey

Foto: privat

Emily Matthey

studiert seit 2019 Koreanistik und Ostasienwissenschaften am Institut für Koreastudien der Freien Universität Berlin. Sie interessiert sich besonders für die Geschichte Koreas und absolvierte 2021 ein Praktikum am Koreanischen Kulturzentrum.