Doch auch andere Geister schwirren aufgeschreckt umher und zeigen sich den Jungen in bläulich durchscheinender Gestalt. Es sind die früheren Bewohner jener Blumeninsel, die auf einer zweiten Realitätsebene neben den Müllsammlern her leben. Sie stecken in zusammengewürfelter Kleidung und bewegen sich tanzend und schaukelnd fort. Darin mögen sie ein wenig an die Tänzer/innen der koreanischen „Ambiguous Dance Company“ erinnern, die im Videoclip zum aktuellen Song „Higher Power“ der britischen Band Coldplay just als transparente Hologramme auftreten. Allerdings haben diese bezaubernden Tänzer deutlich mehr Energie als Hwangs Romanfiguren, denen die Verwüstung ihrer Heimat viel Kraft geraubt hat. Trotzdem wollen sie so lange durchhalten, bis die Deponie irgendwann wieder geschlossen wird, sagen sie, und „dann stellen wir langsam den vorigen Zustand wieder her“. Ob das möglich ist? Hwang Sok-Yong steht auf der Seite der Kinder, der Tiere und der Geister, die er sehr feinfühlig zusammenführt. Sie alle leiden unter dem Schmutz auf der Insel, und es muss als bissiger Kommentar des Autors gelesen werden, dass einer der blauen Geister eine aus dem Müll gefischte Kappe mit der Aufschrift der noch unter Park Chung-hee ins Leben gerufenen „Neues Dorf Bewegung“ (Saemaeul Undong/새마을 운동) trägt. Diese Kampagne sollte den Lebensstandard im ländlichen Korea steigern, was auch gut gelang. Doch wo einige Gegenden aufpoliert werden, kämpfen andere mit den Abfällen des neuen – und pikanterweise gerade zum erdverbundenen Erntedankfest Chuseok heftig anschwellenden – Konsums, zeigt Hwang. Wie er überhaupt einen kritischen Blick auf das sich aufputzende Korea wirft, das Glupschaug und Glatzfleck bei Ausflügen in die Innenstadt erleben und in dem Kleinkriminelle und Obdachlose und „überhaupt alle, die ihren Mitmenschen ein Dorn im Auge waren und die allgemeine Harmonie störten“ für längere Zeit wegsperrt werden, auch Glupschaugs Vater.
Die Eleganz dieser Geschichte des für seine politischen Romane weithin bekannten Hwang Sok-Yong besteht darin, dass die Deponie außerhalb des offiziellen gesellschaftlichen Lebens liegt. Alles, was in Seoul passiert, erleben Glupschaug und seine Freunde gespiegelt in Art und Menge des angelieferten Mülls. Doch stellt sich die Frage, wohin diese Geschichte eigentlich steuert. Darin liegt in der Tat ihre größte Schwäche, denn ihr fehlt ein überzeugender Spannungsbogen. Glupschaug und Glatzfleck besuchen Familie Schrumpel, sprechen mit den blautransparenten Geistern, kommen einmal überraschend zu recht viel Geld und erleben zudem ein großes Feuer. Dabei durchlaufen sie eine Abfolge von Szenen, aus denen sich aber wenig entwickelt und die nur locker miteinander verknüpft sind. Eine weitere Schwäche liegt in der Übersetzung von Andreas Schirmer, die zwar sehr flüssig gelungen ist, aber stilistisch unentschieden wirkt. Auf der einen Seite gibt es im Roman moderne Snacks, Klamotten und Recyclingfirmen. Auf der anderen Seite wimmelt es von überholten Wendungen, die dem Roman etwas Ältliches geben. Da werden Kopfnüsse verteilt und Staubmäntel getragen, da wird gegrollt, gezankt und gerauft, da sind Jungen Lauser oder Milchbuben. Durchdrungen wird all dies zudem von unzähligen Austriazismen, die dem Leben auf der Seouler Müllkippe einen befremdlichen Hauch von Alpenrepublik verleihen, etwa wenn ein Hemd ein Obergewand, eine Behörde ein Magistrat, eine Mücke eine Gelse, eine Reinigung eine Putzerei und ein Anwalt ein Advokat ist.
Gleichwohl trifft Hwang Sok-Yong mit seinem Roman einen Nerv der Zeit. Umweltthematiken werden gesellschaftspolitisch und daher auch literarisch immer wichtiger. Chen Qiufan etwa erzählt aktuell von der südchinesischen Insel Guiyu, auf der massenhaft Elektronikschrott ausgeschlachtet wird („Die Siliziuminsel“), und der Taiwaner Wu Ming-Yi führt auf eine durch herumwirbelndes Plastik entstandene Müllinsel im Pazifik („The Man with the Compound Eyes“). Mit Hwang Sok-Yongs Blumeninsel entsteht damit geradezu eine fernöstliche Müllinsel-Trilogie.
Selbst an die japanische Aufräumkönigin Marie Kondo kann man bei der Lektüre von Hwangs neuem Roman übrigens denken. Es ist ja dem blanken Überfluss geschuldet, dass Marie Kondo materiellen Minimalismus predigt und den Rat gibt, nur Dinge anzuschaffen oder zu behalten, die einem wirklich wichtig sind. Dem würde Hwang Sok-Yong unbedingt zustimmen, denn auch er erkennt sehr klarsichtig, dass viel zu viele Dinge auf der Deponie landen, die von Anfang an bedeutungslos waren, weil ihnen nicht einmal ihre Käufer „echte Liebe geschenkt“ haben. Bei Hwang ist es Schrumpels Mama, die zeigt, wie man wirklich mit den Dingen umgehen sollte. In ihrem Haus finden sich viele alte Gegenstände, die vom täglichen Gebrauch blankgewetzt sind. Sie sind die „Vertraute Welt“. Und deshalb sieht man ihnen an, wie „sie einander gern hatten, Ding und Mensch.“