SURREALER TAG, SURREALE NACHT
Es ist heiß in Seoul. Die Luft flirrt, Formen zerschmelzen, die Zeit fließt träge und schwer dahin. Die Hitze verwischt die Grenzen zwischen dem was passiert, dem was passieren wird, dem was passiert ist und dem was nie passiert.
In diesem Zustand zwischen dem Erzählten und Unerzählten steht die junge Ayami, Hauptfigur des Romans „Weiße Nacht“ der Südkoreanerin Bae Suah. Die Handlung setzt mit Ayamis letzten Arbeitstag in dem einzigen Audiotheater Seouls ein. Bislang konnten Menschen mit Sehbehinderung hier Audioaufnahmen von Theaterstücken hören. Ayami ist als einzige Angestellte Mädchen für alles. Neben ihr gibt es nur noch den Direktor. Doch da es kaum frequentiert wird, hat die betreibende Stiftung sich dazu entschlossen, das Theater zu schließen.
Auch heute ist Ayami besorgt wegen der geisterhaften Geräusche, die zu einer bestimmten Zeit aus einem der Theaterradios ertönen und das Wetter für den Schiffsverkehr verkünden. Ein Ehepaar geht vorbei, hält kurz vor dem Theater und lamentiert, dass es diesen Ort erst jetzt entdeckt. Die elternlose Ayami glaubt in ihnen ihre Erzeuger zu erkennen. Ein augenscheinlich verwirrter Mann klopft an die Tür und verlangt Einlass, ehe zwei Wachleute ihn abführen. Ayami meint ihn zu kennen, kann sich jedoch selbst nicht trauen. Sie hört Dinge, die sie nicht hören sollte, wie die Stimme des Verwirrten durch das dicke Türglas oder einer Autofahrerin, die beim Fahren Telefonsex hat.
„Weiße Nacht“ taumelt zwischen der Realität und dem Anderen, zwischen Traum und Wirklichkeit und gleitet auf der sommerlich-gestauten Hitze Seouls wie auf einem hypnotischen Trip. Innerhalb eines Tages und einer Nacht wandert Ayami mit dem Direktor durch Seouls Straßen, sucht ihre auf mysteriöse Weise verschwundene Deutschlehrerin und begleitet den deutschen Schriftsteller Wolf bei einer Recherchereise. Sie treibt dahin, unsicher, wohin sie, eine ehemalige Schauspielerin ohne besondere Fähigkeiten, gehen soll.
Der Roman verweigert sich jeder Kategorie, bleibt unfassbar. Alles greift ineinander, wird hyperreal und von Motiven überlappt, wie etwa dem eines mehrdimensionalen Kosmos im koreanischen Schamanismus, in dem alle Dinge lebendig sind. Ayamis Name ist auch jener des Geistes, der während eines schamanischen Rituals den Körper der Schamanen ergreift und ihnen die andere Welt öffnet. Als Kind hebt Ayami einmal einen Kiesel auf und sieht darin zugleich ihr gegenwärtiges oder ihr vergangenes Selbst oder beide zugleich, sie ist gleichzeitig das Huhn und die alte Frau.
Auch anderes existiert zugleich, doppelt und wiederholt sich. Ganze Absätze werden Wort für Wort wiederholt, Figuren sind immer wieder pockennarbig, haben eingesunkene Augen und dürre Fesseln, tragen einen weißen, stark riechenden Hanbok, die traditionelle koreanische Tracht, und ein weißer Bus fährt mehrfach vorbei. Geändert wird allein der Kontext, und so entstehen verfälschte Spiegelbilder wie Déjà-vus, die sich immer und immer wieder gegenseitig reflektierend, klare Strukturen und eine fassbare Chronologie verhindern.
Bae spielt mit Kontrasten. Licht und Dunkel, sehend und blind, hörend und taub, Nord und Süd, Tag und Nacht. Mittendrin hängt Ayami, ebenso vage wie alles in diesem Roman, gefangen zwischen ihren eigenen Wünschen und gesellschaftlichen Formen, in die sie nicht passt. Bae nimmt die äußeren Erwartungen und kehrt sie, oftmals mit Blick in die koreanische Geschichte, um. Begriffe wie Ausgangssperre, Panzer und Stromausfall erinnern an die Zeit, als auch der Süden Koreas eine Diktatur war. In einer Fernsehsendung wird eine Familie, die durch die Teilung der Halbinsel getrennt wurde, zusammengeführt. Mit dabei ist auch die Schauspielerin Ayami.
Was ist wahr, was ist Fiktion? In „Weiße Nacht“ stellt Bae Konzepte auf, hinterfragt und verwirft sie. Am Ende bleibt nichts als die Gewissheit, dass eine Geschichte nur so klar sein kann, wie die sie umgebende Welt und das diese hier ihre Leserschaft noch lange begleiten wird.
Urteil der Jury:
"Die sprachlich souveräne Besprechung besticht besonders durch die gelungene Wiedergabe von Inhalt und komplexer Erzählstruktur des Romans. Überzeugt hat uns auch, dass Schrader Eigenarten der Autorin wie das Spiel mit Kontrasten thematisiert und kulturelle und gesellschaftliche Hintergründe (Schamanismus, Geschichte Koreas) in ihren Text mit einbezieht."