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KORYO-SARAM - TRADITIONEN WELTWEIT

                             Dominik mit seinen Eltern und der Oma (li.), die für die Feier des ersten Geburtstags aus Usbekistan zu Besuch gekommen ist

                 Dominik mit seinen Eltern und der Oma (li.), die für die Feier des ersten Geburtstags

                              aus Usbekistan zu Besuch gekommen ist (Foto: Irina Dygruber-Pak)

 

Vor rund dreißig Jahren wuchs in Kasachstan und Usbekistan die vierte Generation der (post-)sowjetischen koreanischen Minderheit, genannt „Koryo-saram“, auf. Dazu gehörten Irina Dygruber-Pak, die heute in Österreich lebt, Natalya Bexeitova (Kim), die nun in Südkorea wohnt, sowie Vadim Tan, der in Usbekistan ansässig ist. Obwohl sie heute in drei ganz verschiedenen Ländern leben, pflegen sie eine gemeinsame Tradition: Denn alle drei feierten den ersten Geburstag ihres jeweiligen Kindes nach einer auf Koreanisch „Dol“ und auf Russisch „Asjandi“ genannten Feier.


Aber nicht nur ihre Feste sind außergewöhnlich; den meisten Außenstehenden fällt zunächst die Namensgebung der Koryo-saram auf. Sie haben erkennbar koreanische Nach-, aber russische Vornamen. Dies rührt von ihrer langen Russifizierung in der ehemaligen Sowjetunion her. Kurz nach Überquerung des russisch-(nord-)koreanischen Grenzflusses Tjumen 1863 siedelten sich die ersten koreanischen Siedler im fernöstlichen Russland, unweit von Wladiwostok, an. Sie waren vor Nahrungsmittelknappheit und hohen Steuern aus ihrer Heimat geflohen, bald danach – vor allem nach der japanischen Okkupation Koreas 1910 – schlossen sich ihnen in weiteren Auswanderungswellen zusätzliche koreanische Familien an. Sie integrierten sich in die zunächst spätzaristische, dann sowjetische Gesellschaft, wurden 1937 unter Stalin nach Zentralasien zwangsdeportiert und wuchsen dort gesellschaftlich gut integriert heran. Die vierte Generation spricht heute kein Koreanisch mehr; und dennoch behielt sie im Alltag viele koreanische Traditionen bei. Mit ihnen drückt sie ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer historischen Heimat aus und repräsentiert so eine wirklich gelebte Einheit, auch wenn die Koryo-saram heute so weit verstreut leben.


                            Ruslan, hier mit den Eltern am Geburtstagstisch, hat seine ersten Gegenstände ausgewählt, darunter Malpinsel und Stethoskop

Ruslan, hier mit den Eltern am Geburtstagstisch, hat seine ersten Gegenstände ausgewählt, darunter Malpinsel und Stethoskop (Foto: Marina Iskra)

Über Generationen hinweg

Familienfeiertage wie etwa die Hochzeit oder der sechzigste Geburtstag der Eltern (Hwangap) nehmen einen besonders hohen Stellenwert ein. Vor allem aber wird auf traditionelle Weise der erste Geburtstag des Kindes gefeiert.

Auch für Natalya Bexeitova (Kim), eine gebürtige ethnische Koreanerin aus Kasachstan, war es selbstverständlich, dass ihr einjähriger Sohn Ruslan auf diese Weise den Geburtstag feiert. Natalya studierte Koreanologie in Kasachstan und Südkorea, lernte ihren Mann Damir in Kasachstan kennen, worauf sie gemeinsam nach Südkorea zogen. Damit sind sie nur zwei von ca. 120.000 anderen Koryo-saram (insgesamt gibt es weltweit rund 500.000), die nach dem Zerfall der Sowjetunion aufgrund der Wirtschaftskrise und der Nationalisierungspolitik in Kasachstan, Usbekistan und Russland nach Südkorea zogen.

Laut Vadim Tan, der heute mit seiner Frau Natalya Pak und seinen zwei Söhnen im usbekischen Taschkent lebt, ist der jeweils erste Geburtstag des Kindes von großer Bedeutung: „Früher war die Kindersterblichkeitsrate sehr hoch. Somit symbolisierte der erste Geburtstag, dass das Kind eine kritische Phase in seinem Leben überstanden hatte, denn die Todesgefahr war besonders im frühkindlichen Alter groß.“ Andererseits betont Vadim, dass die Einhaltung von Dol oder Asjandi eine große symbolische Bedeutung aufweise, da es die Zugehörigkeit zur koreanischen Nation ausdrücke – trotz der und gerade angesichts der weiten zeitlichen und räumlichen Entfernung von der historischen Heimat.


Alle drei Familien – in Österreich, Südkorea und Usbekistan – äußern zugleich, dass die Pflege dieser Traditionen eine Weitergabe der eigenen nationalen Werte und Lebensweise an die nächste Generation bedeute.


Deson mit den Eltern, dem älterem Bruder Irsen, den Großeltern mütterlicherseits und der Oma väterlicherseits, die sich alle zum wichtigen Geburtstagsfest versammelt haben

Deson mit den Eltern, dem älterem Bruder Irsen, den Großeltern mütterlicherseits und der Oma väterlicherseits, die sich alle zum wichtigen Geburtstagsfest versammelt haben (Foto: Irina Chvan, Union Art)


Der erste große Schritt in die Tradition

Die Rituale bei der Durchführung des ersten Geburtstages sind in allen drei Familien gleich geblieben. Der Tag ist in zwei Programmteile untergliedert. Der erste Teil ist der Zeremonie zur Auswahl eines Gegenstandes (Doljabi, Saj oder Koresaj) gewidmet: Am Vormittag werden auf einem Tisch verschiedene Objekte ausgelegt. Das Kind trägt die traditionelle koreanische Kleidung (Dol-bok) und wird mithilfe der Eltern zum Tisch geführt. Auf dem Tisch liegen Reis, der ein Leben in Glück und Wohlstand verspricht; koreanische Reiskuchen (Ddeok), die ein gutes Schicksal bringen sollen; Bohnen, die eine landwirtschaftliche Tätigkeit bedeuten; ein Buch oder Heft, das Neugierde und wissenschaftliches Interesse verheißt; ein Stift, der eine Neigung zum Schreiben oder einen künstlerischen Zug ausdrückt; eine Spule, die Sinnbild für ein langes Leben ist. Bei Mädchen werden zusätzlich Schere mit Nadel, die für eine Führungspersönlichkeit stehen, und bei Jungen ein Schwert, das in eine militärische Richtung weist, ausgelegt. Inzwischen sind weitere Gegenstände wie etwa Geld und moderne Geräte wie Mikrofon, Laptop oder Kamera Teil der Tradition geworden. Laut dem Brauch ist es entscheidend, welche Gegenstände das Kind auswählt. Denn diese Gegenstände deuten nicht nur die charakterliche Präferenz, sondern auch das weitere Schicksal des Kindes an.


Auf das Geburtstagskind Ruslan wartet zu Hause ein feierliches Arrangement.

Auf das Geburtstagskind Ruslan wartet zu Hause ein feierliches Arrangement.

Auf das Geburtstagskind Ruslan wartet zu Hause ein feierliches Arrangement (Foto: Marina Iskra)

Da die drei erstgenannten Lebensmittel – Reis, koreanische Reiskuchen und Bohnen – oft als Symbole für harte körperliche Arbeit interpretiert werden, platzieren die Eltern sie in die letzte und somit schwer für das Kind erreichbare Reihe. Auch Vadim wandte diesen Trick an; und sein Sohn Deson wählte daher auch brav Geld, Stift und ein Heft aus. Die Wahl war für die Eltern und die restlichen Verwandten sehr erfreulich.


Nachdem das Kind drei Gegenstände ausgewählt hat und dadurch sein Schicksal vorbestimmt wurde, beginnen die Gäste, Geldgeschenke von Glückwünschen begleitet auf den Tisch zu legen und dem kleinen Jubilar zu übergeben.


Früher war es üblich, den zweiten Teil der Feier zu Hause bei reichen Speisen zu begehen. Vadim bevorzugte es aber, alle Freunde und Verwandte in ein Restaurant einzuladen. Diese Option wird aus Platz- und Zeitgründen gewählt. Die Anzahl der Gäste variiert nämlich zwischen ein paar Dutzenden bis zu Hunderten. Bei Vadim und Natalya haben rund 100 Gäste den ersten Geburtstag ihres Sohnes mitgefeiert. Die Restaurantoption ist daher inzwischen weit verbreitet. Speziell für solche Dol-Feierlichkeiten bieten viele koreanische Restaurants neben kulinarischen Spezialitäten auch Kinderspiele, Aufführungen und Musik an.


Irina Dygruber-Pak, die seit zehn Jahren in Österreich lebt, hat zusammen mit ihrem Mann Bernhard für den ersten Geburtstag ihres Sohnes Dominik Vladimir viel organisiert. Die nächste große Familienfeier wird dessen Hochzeit sein, für die mindestens genauso viele Vorbereitungsarbeiten bevorstehen. Danach, so hofft sie, wird sie von ihrem Sohn „den Tisch annehmen“ können – eine unter Koryo-saram verbreitete Redewendung, die besagt, dass die Kinder den Eltern besondere Zuwendung schenken und Dankbarkeit zeigen. In diesem Fall bedeutet dies, dass die Kinder den sechzigsten Geburtstag ihrer Eltern mit einer schönen Familienfeier organisieren werden.

Ausblick in die Zukunft

Trotz einer fast hundertfünfzig Jahre währenden Russifizierung leben diese Traditionen unter allen Koryo-saram-Angehörigen fort – ob in Usbekistan, in Österreich oder im ursprünglichen Stammland (Süd-)Korea. Die Weitergabe an die nächste Generation scheint zumindest bei diesen drei Familien gesichert. Selbst wenn sie weiteremigrieren oder im Ausland bleiben – die Koryo-saram wird man weiterhin nicht nur an ihren charakteristischen russisch-koreanischen Namen, sondern auch an ihren Festen erkennen.


Außer Geld wählte Deson einen Stift sowie ein Heft aus.

                               Außer Geld wählte Deson einen Stift sowie ein Heft aus (Foto: Irina Chvan, Union Art)



Bild von Sabine Klimpt

Foto: Sabine Klimpt, OeAD-GmbH

Svetlana Kim

ist eine Doktoratskandidatin an der Universität Wien. An der Fakultät für Slawistik und Soziologie forscht sie über die Identität und Integrationsprozesse der Koryo-saram in Europa. Das Bachelorstudium der Slawistik absolvierte sie an der Karl-Franzens Universität Graz. Ihre Masterarbeit an der Universität Wien behandelte die russischsprachige Literatur der Koryo-saram in Russland und Zentralasien. Zu diesem Thema publizierte sie auch im europäischen Online-Magazin Nouvelle Europe, in Rossijskie koreicy (Russländische Koreaner) in Moskau und in Kore-sinmun im russischen Fernosten.