Mentalitätsgeschichtlich stellt der Roman eine echte Fundgrube dar: Tradierte Vorstellungen zu Geschlechterrollen prägen das Leben. Sunjas Schwager Joseb schlägt seiner Frau Kyunghee zwar „niemals etwas ab, aber er wollte nicht, dass sie Geld verdiente. Er war der Auffassung, ein Mann, der viel arbeitete, sollte seine Familie ernähren können, und die Frau sollte zu Hause bleiben.“ Das wird brisant, sobald Joseb als Ernährer ausfällt, denn andere Prinzipien lauten: Mach keine Schulden und nimm keine Almosen an. Am Ende bringen dann die Frauen die Familie durch – und damit ist der Roman auch Zeugnis einer fast unbewussten Emanzipation. Nachdem Sunja Isaks Grab in Osaka besucht hat, endet die Erzählung mit den Worten: „Zu Hause wartete Kyunghee auf sie.“
Die 1968 in Seoul geborene Min Jin Lee kam 1976 mit ihren Eltern in die USA. „Ein einfaches Leben“ ist ihr zweiter Roman und einer der wenigen, der um koreanische Migrationserfahrungen kreist; bislang findet das Thema und insbesondere die innerasiatische Variante literarisch kaum Niederschlag. Lee bietet der Schauplatz zudem die Möglichkeit, gleichsam von außen auf das Leben in Korea zu blicken. Geschickt zeichnet sie die Optionen nach, die sich für Angehörige der Community in Japan auftun: Noa möchte am liebsten als Japaner gelten. Als vorbildlicher Schüler zeigt er einen ähnlichen Bildungshunger wie Isak. Mozasu antizipiert gleichsam sämtliche Vorurteile, die da lauten: „alle Koreaner haben mit Pachinko[2] und der Yakuza[3] zu tun“ und steigt ins Spielautomatengeschäft ein, kommt auch zu Geld, hält sich aber von der Yakuza fern. Dass auch Noa in einer Pachinkohalle endet, darf wohl als ironischer Kommentar auf beider Aufstiegschancen gelesen werden. Ein Verehrer Kyunghees will zurück, denn „Korea braucht mehr Menschen mit der Kraft, die Nation wieder aufzubauen“, Mozasus Frau sehnt sich nach den USA, um im Land der unbegrenzten Möglichkeiten den Begrenzungen der Geburtsurkunde zu entkommen. Noa erfährt von seiner ersten Freundin, einer Japanerin, paternalistischen Rassismus: „Sie würde immer einen anderen in ihm sehen, nicht den, der er war, sondern eine fantasievolle Version eines Fremden; und sie würde sich immer für etwas Besonderes halten, weil sie sich mit jemandem einließ, der von den anderen verachtet wurde.“
Paradoxerweise misslingen Lee die Figuren, die sie als Inbegriff des „guten Menschen“ darstellen wollte. Über einen Koreaner, der als Junge von Amerikanern adoptiert wird und in den USA aufwächst, heißt es: „Während seiner glücklichen Kindheit, im warmen Nest seiner liebevollen Eltern, hatte er immer mit schlechtem Gewissen an die Koreaner gedacht, die ihr Land für immer verloren hatten.“ In der Regel funktioniert ihr leicht holzschnittartiger Stil bei der Figurenzeichnung aber gut. Sie gestaltet Sunja nie als Frau „zwischen Gangster und Geistlichem“, sondern öffnet den Raum für eine komplexere Sicht, indem sie in der Schwebe hält, ob die Beziehung von Hansu und ihr durch Obsession und Gewalt geprägt war. Hat er sie vergewaltigt? Liebt sie ihn oder fürchtet sie ihn? Stalkt er sie oder hält er seine schützende Hand über die Familie?
Lee zeichnet keine feinen Psychogramme, ihr Text gewinnt Dynamik und Spannung durch das Ausleuchten gesellschaftlicher Umstände. Als Noa und Mozasu eigene Familien gründen, gerät ihr die Handlungsführung ein wenig zur rein summarischen Aufzählung von Missständen. Dieses Manko ist jedoch leicht zu verzeihen, denn bis dahin gewährt ihr Roman aufschlussreiche Einblicke in eine Welt mit viel Pachinko und Kimchi – und weit darüber hinaus.