Ausland

LEBENS(T)RAUM

 

ANDERS-SEIN AUF DEM LAND IN GERSWALDE

Im Gespräch mit Hyemi Cho und Marius Schilling und anderen ‚Anderen‘

 

Hyemi Cho hat mit Korea nicht nur ihr Heimatland, sondern auch ihr altes Leben verlassen. Sie hat der Erschöpfung, dem Leistungsdruck, der Schnelllebigkeit und gefühlten Perspektivlosigkeit als Künstlerin den Rücken gekehrt – und gepackt. Sie hatte drei Jobs gleichzeitig, ist durch die Tage und halben Nächte gehastet und konnte ihrem allzu spartanischen Leben trotz aller Verausgabung nicht entkommen. Sie ging. Sechs Jahre ist das jetzt her. Das ganze Ausmaß des Wetteiferns um mehr Leistungsbereitschaft, mehr Anerkennung, mehr Erfolg, wurde ihr allerdings erst nach ihrer Ankunft in Berlin bewusst. „Die Stadt war eine Befreiung für mich. Hier habe ich erlebt, wie Entspannung geht und dass am Ende des Tages Zeit übrigblieb - für mich. Ich musste lernen, mir Freizeit zu erlauben und sie gestalten zu dürfen. Darin hatte ich keinerlei Übung.“


Hyemi Cho und Marius Schilling mit ihren beiden Söhnen

Hyemi Cho und Marius Schilling mit ihren beiden Söhnen


Heute lebt sie mit Mann und zwei Kindern auf einem etwa 8500 m² großen Grundstück in der Uckermark und darf die Stille der Zurückhaltung genießen. Über Wildblumenwiesen fällt der Blick in ein seichtes Tal, gleitet beflügelt weiter zum Horizont. Es ist wie im Film, aber es ist kein Film. Frisch gepflückte Pfefferminze schwimmt im Wasserkrug, es gibt Kirschen und Kuchen an diesem heißen Sommertag. Gerswalde heißt der Sehnsuchtsort lärmgeplagter Großstädter, die hier ersehnte Zuflucht suchen und ein Exempel für alternative Lebensentwürfe statuieren. Ein Pilot- und Vorbildprojekt für entvölkerte Kommunen vielleicht gar?


Das Wohnhaus ist eine Bleibe der besonderen Art und nicht weniger als eine kleine Offenbarung. Hier gibt es keine Innenwände und keine Einbauküche, stattdessen eine bodentiefe Feuerstelle, eigens gefertigte Holzmöbel und ungebremsten Lichteinfall. LebensRaum wird hier im Detail definiert – und ist nur ein T von Traum entfernt. „Herzlich Willkommen“ steht an der Eingangstür, was spürbar keine Floskel ist. „Dieses Haus war ein Glücksfall und passte in unser Lebenskonzept“, sagt Marius Schilling, der seine heutige Frau während eines einjährigen Auslandsstudiums der Soziologie in Seoul kennen und lieben lernte.  Als sie das erste Kind bekamen, wurde die Wohnung in Berlin zu klein und die Mieten immer teurer. „Ich bin auf dem Land aufgewachsen und habe wieder mit dem Landleben geliebäugelt.“ Schilling hatte zwischenzeitlich von der Soziologie zum Holzhandwerk gewechselt und in drei Jahren genug Geld verdient, um die Grundlage zur Finanzierung dieses Hauses zu schaffen. Das war auch deshalb ein Glücksfall, weil der Vorbesitzer eine komplett eingerichtete Holzwerkstatt hinterließ, die so groß ist, dass Wohn- und Arbeitsbereich gleichdimensioniert aufgeteilt sind. „Solange ich mehr Maschinen als Kinder habe, wird das auch so bleiben“, witzelt Schilling.


Tischlerei und Wohnbereich unter einem Dach

Tischlerei und Wohnbereich unter einem Dach


Seoul - Berlin - Gerswalde. Hyemi Cho ist von einer knapp 10-Millionen-Metropole mit 24-Stunden-Läden in eine 3,5-Millionen-Metropole mit späten Ladenschlusszeiten in ein 1500-köpfiges Dorf mit Minimarkt und frühen Ladenschlusszeiten gezogen. Der nächste Großdiscounter ist weit, man muss sich zu helfen wissen. Die beiden Stadtflüchtigen wissen, wie das geht; sie üben sich im Obst- und Gemüseanbau, backen Brot und bereiten Kimchi selber zu. Die meisten Lebensmittel beziehen sie direkt aus der Nachbarschaft oder halten eigenes Vieh für die Selbstversorgung. „Wer selbst ein Schaf schlachtet, entwickelt ein anderes Verhältnis zum Fleischverzehr“, sagt Marius Schilling und weiß, wovon er spricht. Er möchte die Dinge ganz genau wissen, will in Berührung kommen, lernen, mit den Händen arbeiten. „Eine solche Erfahrung bringt uns den Dingen näher, als der Kauf von portioniertem Fleisch in Plastikfolie.“

 

Seoul - Berlin - Gerswalde. Hyemi Cho lebt heute den Gegenentwurf zu ihrer Vergangenheit. Dieser Schritt ist nicht nur ungewöhnlich, sondern auch mutig. In der kollektivistisch geprägten koreanischen Gesellschaft ist der Weg zu einem selbstbestimmten Leben steiniger als in einem Land, das dem Individuum huldigt. „Meine Eltern dachten, ich ginge nur für ein Jahr nach Deutschland. Als meine Mutter von unseren Hochzeitsplänen erfuhr, hat sie geweint. Sie wusste, dass ich nicht mehr zurückkommen würde.“ Aus Sorge, der Vater werde „verrückt wegen dir“, hat sie ihrer Tochter in Sachen Heirat Redeverbot erteilt. Erst später, als das frisch vermählte Paar eine gemeinsame Korea-Reise plante und der Vater


Offene Feuerstelle im Wohnbereich

Offene Feuerstelle im Wohnbereich

für den vermeintlichen ‚Freund‘ Marius ein separates Hotelzimmer buchen wollte, hat er davon erfahren. Verrückt geworden ist er nicht. „Am Anfang ist er zwar aus allen Wolken gefallen, hat uns aber seinen Segen gegeben, als ich sagte, dass ich glücklich sei. Auch meine Mutter hat im Grunde immer gewusst, dass ich nicht zu einem koreanischen Mann passen würde, der die idealtypische, schüchterne, feminine Frau mit geweißter Haut und heller Stimme sucht, die immer ‚ja‘ sagt und passiv ist. Das bin ich nicht, und ich glaube, sie hat mittlerweile ihren Frieden damit gemacht.“


Als Hye-mis Mutter letztes Jahr zu Besuch kam, war sie beeindruckt von der Weite und Schönheit des neuen Domizils und Kinderparadieses. Dennoch zweifelte sie an verfügbaren Überlebensstrategien, Mitteln und Methoden zur Bewältigung des Lebensalltags, als sei Gerswalde das Alcatraz der Uckermark. „Das hat mich zunächst etwas verunsichert, aber nach einem Jahr Landleben kann ich sagen, dass ich mich nicht wie eine Gefangene auf einer Insel der Verbannung fühle. Und ich kann auch sagen, dass sich die Verbindung zu meiner Mutter trotz der räumlichen Entfernung intensiviert hat - oder vielleicht gerade deshalb. Koreanischen Mütter fehlt oft die Distanz … (lacht).“


Dennoch, auch das Landleben hat seinen Preis. Selbstanbau hin und Viehzucht her, es fehlt an seidenweichem Tofu für den Eintopf Sundubu-Jjigae (순두부찌개) oder scharfem Reiskuchen für das Garküchen-Gericht Tteokbokki (떡볶이). „In der koreanischen Kultur spielt das gemeinsame Essen und Trinken eine große Rolle. Das vermisse ich am meisten. Auch sprachlich bin ich mit meinen bescheidenen Deutschkenntnissen hier nicht wirklich zu Hause. In Berlin war das anders, dort konnte ich mich problemlos auf Englisch oder Koreanisch verständigen.“

 

Aber: Es tut sich etwas in Gerswalde! Bis das erste koreanische Lebensmittelgeschäft eröffnet, wird es zwar noch dauern, aber immerhin gibt es hier eine koreanische Bekannte, die mit ihrem deutschen Freund die Galerie „Löwen.haus“ betreibt. „Es tut mir gut, mit ihr Koreanisch sprechen zu können.“ Manchmal kommen koreanische Freunde aus Berlin und bringen seidenweichen Tofu und Reiskuchen mit. Dann wird gegessen, getrunken und geredet – alles auf Koreanisch. „Und weil hier abends niemand mehr zurückfährt, verbringen wir auch mehr Zeit miteinander. Das Zusammensein ist intensiver als früher in Berlin, wo wir uns kurz auf einen Chai Latte im Café getroffen haben.“


Wer in Gerswalde ins Café geht, trinkt seinen Chai Latte im Gewächshaus der ehemaligen Schlossgärtnerei, isst Sushi Cake von Trödelmarkttellern und stillt seinen Durst mit selbstgemachter Hibiscus-Jasmin-Schorle. Das von zwei Japanerinnen betriebene „Café zum Löwen“ ist ein Ort zum Schauen und Verweilen mit Überlänge - ein sympathisch-authentisches Durcheinander. Hier kreiert das Klavier neben dem aufdringlich platzierten Getränkeautomaten vor ramponierter Rückwand eine unabsichtlich ansprechende Disharmonie, die in der rot-weiß-geblümten Kitsch-Tischdecke neben der Emaillevase aus DDR-Zeiten ihre Vollendung findet.


„Café zum Löwen“ im Gewächshaus der alten Schlossgärtnerei

„Café zum Löwen“ im Gewächshaus der alten Schlossgärtnerei

An diesem hochsommerlichen Sonntag sind fünf Japanerinnen mit dem Verkauf und der Zubereitung von europäischen und landestypisch Speisen vom fernen Kontinent befasst und versprühen internationales Flair. Jedes Wochenende kommen sie mit ihrem vollbeladenen Auto aus Berlin, um das Dornröschen Gerswalde mit seinen teils geisterhaften Dorfkneipenfassaden vollmundig wachzuküssen. Vor nicht allzu langer Zeit sind sie noch per Regionalbahn und Bus angereist und haben statt ihres Autos einen vollbeladenen Handkarren in den „Großen Garten“ der einstigen Schlossgärtnerei gezogen. Sie sind nicht die einzigen, die zwischen Metropole und Dorf pendeln, aber wohl die einzigen, die je einen derart bemerkenswerten Aufwand betrieben haben, beide Welten miteinander zu vereinen.


Das „Café zum Löwen“

Das „Café zum Löwen“

Auch Olaf Maurer ist ein Zugezogener mit zwei Standbeinen in zwei Leben, die so weit voneinander entfernt sind wie ein Eisverkäufer von einem Industriedesigner. Den Großteil des Jahres wohnt er hier auf dem Lande, in einer 180 EUR billigen Einzimmerwohnung hinter den sieben Bergen. „Eis PARADIESCHEN“ heißt sein im Frühjahr 2018 gegründetes Kleinod für Fans der gefrorenen Kaltspeise ohne Zusatzstoffe, die er liebenswerterweise in Butterbrottüten verpackt. Samstags und sonntags steht er lächelnd neben seiner Kühltruhe, in der sich die innovativen Kreationen aus der Selbstherstellung von Mirabelle-Ziegenmilch-, bis Gurke-Minze-Eis mit Früchten verbergen und den Besuchern kühle Gaumenfreude bereiten.


Olaf Maurer und sein „Eis PARADIESCHEN“, das im alten Heizhaus der Schlossgärtnerei untergebracht ist

Olaf Maurer und sein „Eis PARADIESCHEN“, das im alten Heizhaus der Schlossgärtnerei untergebracht ist

Seine Manufaktur ist nur wenige Schritte entfernt im alten Heizhaus der ehemaligen Schlossgärtnerei untergebracht. Olaf Maurer kennt das Bedürfnis nach Zerstreuung auf dem Lande und bringt das Glück in Cocktailgläsern. Im Sommer betreibt er freitags- und samstagabends die „Bar PARADIESCHEN“, die sich zur Anlaufstelle für eventhungrige Einheimische und Zugezogene entwickelt hat und Aussicht auf ersehnte Abwechslung bietet. Aus dem Eisverkäufer des Tages wird der Barkeeper der Nacht. Bei cooler Musik und tollen Drinks drängen sich Land- und zunehmend auch neugierige Großstadtbewohner bis tief in die Nacht um Ingwerbirnengintonic und Feuerschale und scheinen irgendwie der Zeit enthoben. Olaf Maurer ist neugierig, offen und wandelbar und von Berufswegen eigentlich Industriedesigner. Sporadisch fährt er in sein zweites Domizil nach Berlin/Neukölln und entwickelt Pläne für Interior-Projekte – Dachgeschosse, Buchläden oder Steuerkanzleien.


Die „Bar PARADIESCHEN“

Die „Bar PARADIESCHEN“

Sonntagabends fällt Dornröschen wieder in den Tiefschlaf, und so mancher Alteingesessene fühlt sich wehmütig an alte Zeiten erinnert, als naturverklärende Uckermark-Touristen noch zu Hause blieben und Berliner nur Berlin mit Autos verstopften. Das Zusammenleben kann bekanntlich nur zusammen gelingen, und das bedarf der Übung und Gewöhnung. „Es ist nicht leicht, mit den Leuten in Kontakt zu kommen, aber letzten Endes hängt es von einem selbst ab und von der eigenen Bereitschaft, sich zu integrieren“, ist Marius Schilling sich sicher. „Wer wie ein überheblicher Städter auftritt und alles verändern will, wird auf Ablehnung stoßen und ein Fremder bleiben, weil er sich wie ein Fremder verhält. Wer aber die bestehenden Strukturen respektiert, wird irgendwann als Bereicherung wahrgenommen – weil er die regionalen Produkte kauft und damit das Überleben der Bauern sichert, weil er den Landarzt konsultiert und so die Praxisschließung verhindert oder weil er seine Kinder in die Dorf-Kita gibt und damit vor der Schließung bewahrt.“ Schilling ist in den örtlichen Fußballverein eingetreten und hat erlebt, wie sich die sparsam besetzte Mannschaft mit Nachwuchssorgen über ein neues Mitglied freute.


Olaf Maurer neben seiner Eistruhe

Olaf Maurer neben seiner Eistruhe

Bei der Frage, ob Lebenskonzepte dieser Art auch in Korea vorstellbar wären, gehen die Meinungen zwischen Hyemi Cho und ihrem Mann auseinander. „Viele Koreaner würden das für eine sehr europäische Sache halten oder für die eines wohlhabenden Landes wie Deutschland. Sie würden die Idee zwar bewundern, aber die Umsetzung selbst für unmöglich halten“, sagt Hyemi Cho über ihre Landsleute und mutmaßt, dass es wohl in erster Linie die Angst vor der Ablehnung durch die Gesellschaft wäre, die viele abhalten würde, diesen Schritt zu gehen. Allerdings sei bei der jüngeren Generation neuerdings ein starkes politisches Bewusstsein und eine zunehmende Loslösung von alten Denkmustern zu beobachten, die mit einer Besinnung auf das eigene Selbst einhergehe. „Es muss immer einen Pionier geben, der die harte Arbeit macht und die Dinge erkämpft“, ist Schilling ebenso überzeugt wie von der Idee, dass der Aufbau einer Werkstatt auf dem Land und der Verkauf von handgefertigten Holzprodukten in Korea ebenso möglich wäre wie in Deutschland. „Am Ende zählt in der Leistungsgesellschaft Korea einzig der Erfolg. Wer aufs Land ziehen und viel Geld verdienen würde, müsste mangelnde Akzeptanz nicht fürchten. Anders als der, der scheitern würde…“.


Das Ehepaar Graf vor seinem „Landhandel“, der bald eröffnen soll
Das Ehepaar Graf vor seinem „Landhandel“, der bald eröffnen soll

In Gerswalde jedenfalls ist der Wandel spürbar, und Neues entsteht zuweilen auch aus Altem. Auf der Hauptstraße des Dorfes stehen die ‚Einheimischen‘ Gerhard Graf und seine Frau Ingelore neben dem Baugerüst ihres Zukunftsprojekts namens „Landhandel“. Sie erwecken das alte Geschäft einer alten Dame mit neuen Ideen zu neuem Leben. Ein Handel mit Waren des alltäglichen Bedarfs, Café und Treffpunkt und alles in einem - für Einwohner, Zugezogene oder Durchreisende, für alle zum Schnack bei Kuchen oder Bier. Gerwaldes zweiter Minimarkt dann bald schon. Wenn seidenweicher Tofu und Reiskuchen einst die Regale füllen, hat Dornröschens Schlaf wohl auf ewig ein Ende. 
Geküsst wird sie dann aber auch nicht mehr…

 

Weitere Informationen über Marius Schillings „Möbelwerk“:
www.mariusschilling.de



Bild von Dr. Stefanie Grote

Foto: privat

Dr. Stefanie Grote

Redaktion "Kultur Korea"









Quelle: Magazin Kultur Korea (http://kulturkorea.org/