Jedoch hat all dieses Essen eine wichtigere Funktion, als nur konsumiert zu werden. Bevor jemand die Speisen anrühren kann, werden sie den Ahnen in einer Zeremonie namens Charye als Opfergabe dargereicht. Das Essen sowie Reiswein werden in einem beeindruckenden Schauspiel auf einem Tisch neben den Grabhügeln der Ahnen oder im Familienhaus platziert. Die Familie versammelt sich vor dem Tisch und spricht Gebete, während den Geistern der Verstorbenen Reiswein angeboten wird. Danach führen die Familienmitglieder tiefe Verbeugungen aus, knien sich auf den Boden, erweisen ihre Dankbarkeit für die in ihrem Leben erhaltenen Segnungen und erinnern an die verstorbenen Familienmitglieder. Nach der Zeremonie setzt sich die Familie gemeinsam hin und nimmt an einem großzügigen Festmahl teil. Während dieser drei Tage des Familientreffens verbringen Cousins, Onkel, Tanten und Großeltern sehr viel Zeit miteinander. Traditionell nehmen die Familien an Spielen wie Tauziehen, Bogenschießen oder Ssireum, eine Art traditioneller koreanischer Ringkampf, teil. Heutzutage ist es jedoch eher an der Tagesordnung, dass Familienmitglieder zusammen ein Bier trinken, während sie Tintenfisch und Erdnüsse knabbern, Fernsehen schauen oder Go-Stop spielen, ein populäres koreanisches Kartenspiel.
Von Anfang bis Ende liegt der Fokus des Festes auf der Verbindung zwischen Menschen und ihren Heimatorten, zu ihren Familien, ihren Ahnen und der Erde. „Sintoburi“, ein koreanisches Idiom, besagt, dass die landwirtschaftlichen Produkte aus dem Heimatort immer die besten sind. Wortwörtlich übersetzt bedeutet es so viel wie: „Der Körper und die Erde können nicht getrennt werden“. Dies belegt die Einstellung der Koreaner, wenn es um Chuseok geht. Der Respekt, den die Koreaner ihren Traditionen zollen, wird nur durch die Leidenschaft, jene mit anderen zu teilen, übertroffen.
Während meiner sieben Jahre in Korea hatte ich reichlich Gelegenheiten, mit meinen Freunden und Bekannten koreanische Traditionen zu erleben. Meine erste Begegnung mit der Gastfreundschaft hatte ich als junger, in Gunsan lebender Mann. Einer meiner Kollegen, Herr Yu, war so besorgt darüber, dass ich während der Feiertage allein und hungrig sein könnte, da die Läden alle schließen, dass er mich über die Feiertage zu sich und seiner Familie einlud. Weder hatte ich Chuseok schon einmal miterlebt, noch verstand ich genau, was es für einen Koreaner hieß, an einem solch wichtigen Tag allein zu sein, und trotzdem war ich gerührt durch seine Fürsorge. Am ersten Morgen standen wir früh auf, packten unser Essen ein und gingen in die Berge, um das Gras um die Familienhügelgräber herum zu trimmen. Die Gräber von vier Generationen der Yu-Familie mit ihren grasbedeckten Hügeln und Steinsäulen, die sich seitlich eines Berges erstreckten, nahmen eine riesige Fläche ein. Mit Scheren bewaffnet hat jeder von uns in der frischen Herbstluft akribisch Sorge dafür getragen, dass das Gras auf eine einheitliche Länge geschnitten wird. Aus einem Land kommend, in dem Friedhofsverwaltungen dafür bezahlt werden, sich um das Grab eines geliebten Menschen zu kümmern, fühlte sich all dies noch viel intimer an. Als wir fertig damit waren und die Sonne begann, den angrenzenden Bergkamm zu bescheinen, setzten wir uns neben die Gräber und aßen unsere Speisen, während wir die herbstliche Landschaft in uns aufnahmen. Herr Yu war sehr stolz, mir die Geschichte seiner Vorfahren zu erzählen und Erklärungen über die vielversprechende Gegend abzugeben, in der sich die Hügelgräber befanden. Er sagte, dass die Grabanlage, die auf der einen Seite durch einen Berg begrenzt wird und auf der anderen Seite einen kleinen Fluss überblickt, in Orientierung an den Prinzipien des Fengshui (auf Koreanisch „Pungsu“) erbaut worden sei und diese optimal erfülle Er informierte mich darüber, dass dank dieser vielversprechenden Ausrichtung die Geister seiner Ahnen in Frieden ruhen könnten und so noch mehr Segen über seine Familie bringen würden.