Ausland

IM AUGE DES TAIFUNS - DAS 24. BUSAN INTERNATIONAL FILM FESTIVAL


Von Ansgar Vogt

 

 






LUCKY CHAN-SIL © M-Line Distribution



Beinahe 300 Filme aus 85 Ländern, ein riesiges Celebrity-Aufgebot, ein umtriebiger Industriemarkt und ein Taifun – das sind die groben Eckdaten der 24. Ausgabe des Busan International Film Festivals (BIFF), das vom 3. bis zum 12. Oktober 2019 stattfand. Fast 190.000 Besucher wurden von offiziellen Stellen gezählt. Ausgerechnet ein Taifun bedrohte kurz vor Beginn das filmische Großereignis. Zahlreiche Gäste trafen aufgrund von Flugausfällen verspätet ein. In letzter Sekunde klarte doch noch der Himmel auf.


Während der Eröffnungszeremonie liefen viele koreanische Stars auf dem gigantischen roten Teppich auf, unter anderem JO Yeo-jeong, Hauptdarstellerin des diesjährigen Gewinners der Goldenen Palme in Cannes, PARASITE, und Girls´-Generation-Mitglied Yoon-a aus dem Sommer-Blockbuster EXIT. Moderatoren der Veranstaltung waren die populären Schauspieler JUNG Woo-sung aus STEEL RAIN und LEE Ha-nee aus EXTREME JOB.

Während sich die Filmfestspiele von Cannes seit 2018 dafür entschieden hatten, Netflix-Projekte nicht mehr in Betracht zu ziehen, stammten im diesjährigen Busan-Programm vier Filme von der Streaming-Ikone, so auch das Erfolgsdrama THE KING. Bei der Galapräsentation des Films war auch Hollywood-Star Timothée Chalamet (internationaler Durchbruch mit der oscarprämierten Produktion CALL ME BY YOUR NAME) zugegen. Die Vorstellung avancierte zu einer Art „Busan-Buster“ – eine schier unüberschaubare Anzahl an Menschen reihte sich im Vorfeld in eine Schlange um den gesamten Häuserblock vor dem Ticketbüro ein, um eine der Karten zu ergattern.


Parallel zum Festival fand der asiatische Filmmarkt statt, der ein starkes Jahr mit fast 2.200 Teilnehmern verzeichnete: 983 anwesende Unternehmen aus 56 Ländern bedeuteten eine Steigerung von 22% gegenüber dem Vorjahr. Zu den wichtigsten auf dem Markt vertretenen koreanischen Titeln, die dann im nächsten Jahr im Kino zu sehen sein werden, gehört der Spionage-Action-Thriller SUMMIT: STEEL RAIN mit den Stars JUNG Woo-sung und KWAK Do-won – und darüber hinaus die derzeit in Produktion befindliche Katastrophenkomödie SINKHOLE, in der CHA Seung-won (CHEER UP, MR. LEE) eine Hauptrolle übernimmt.


Mit Blick auf die Zukunft ist im Rahmen des Festivals auch die Errichtung eines koreanischen Kinomuseums geplant. Außerdem sollen die renommierten Asian Film Awards, seit 13 Jahren in Hongkong verliehen, ab dem nächsten Jahr nach Busan ins Umfeld des BIFF umziehen. Beide Neuerungen werten das Festival weiter auf.


Die bedeutendste BIFF-Sektion heißt „New Currents“: Der hier stattfindende Wettbewerb präsentiert traditionell die aufstrebenden, neuen Regie-Stimmen Asiens. Der Preis der Jury wurde schließlich ex aequo verteilt: auf den vietnamesischen Film ROM (Regie: Tran Thanh Huy) und die irakisch-katarische Produktion HAIFA STREET (Regie: Mohanad Hayal). In diesem Programmbereich waren auch drei koreanische Weltpremieren vertreten: Im Zentrum von THE EDUCATION (Regie: KIM Duk-joong) steht die Sozialarbeiterin Seonghee, die sich im Haus von Hyeonmok um dessen schwer behinderte Mutter kümmert. Nach großen Anlaufschwierigkeiten entwickelt sich zwischen Seonghee und Hyunmok allmählich eine tiefgründige Beziehung. Die Handlung ist geprägt durch intensive Gespräche und feine Gesten. Bewusst lässt der Film große Aktionen aus. Die beiden Hauptdarsteller erhielten Preise für ihre bemerkenswerte Schauspielleistung. Der mit dem KNN-Zuschauerpreis versehene Film AN OLD LADY erzählt die Geschichte der 69-jährigen Hyo-jeong, die im Krankenhaus von einem Pfleger vergewaltigt wird – ihr wird jedoch nicht Glauben geschenkt, zumal der geständige Pfleger behauptet, es handelte sich um einvernehmlichen Sex. Mit viel Musikeinsatz erzählt Regisseurin LIM Sun-ae die emotional ergreifende Geschichte ihrer Hauptfigur, die unbeirrt gegen ein gesellschaftliches Tabu ankämpft. LUCKY MONSTER (Regie: BONG Joon-young) erhielt den KTH Award, der unabhängige koreanische Produktionen fördert. Im Grotesk-Komödiantischen angesiedelt, fokussiert der Film auf Maeng-su, der sich bei dubiosen Kreditgebern hoch verschuldet hat. Um seine Ehefrau vor den brutalen Geldverleihern zu schützen, lässt er sich offiziell von ihr scheiden. Doch gerade als seine Ehefrau unauffindbar abgetaucht ist, gewinnt Maeng-su den Jackpot im Lotto… Der Film führt uns einen Stellvertreter der koreanischen Mittelschicht vor, der sich, als er sozial abrutscht, unverhofft zum grausamen Monster entwickelt.


Die meisten Preise des Festivals räumte die Nachwuchs-Regisseurin YOON Dan-bi ab, deren Erstlingswerk MOVING ON in der Sektion „Korean Cinema Today“ programmiert war. Sie erhielt neben dem NETPAC Award auch den KTH Award, den Directors´ Guild of Korea Award und ebenso den Citizen Critics´ Award. Die Coming-of-Age-Erzählung leuchtet das Leben einer koreanischen Familie in drei Generationen aus. Dabei rückt die Teenager-Tochter Okju in den Mittelpunkt, deren Persönlichkeit die Regisseurin tiefschürfend und vieldimensional beschreibt. Der Film unterstreicht die Bedeutung von familiärem Zusammenhalt, der auf gegenseitigem Respekt fußen muss. Hervorzuheben ist der Film LUCKY CHAN-SIL (Regie: KIM Cho-hee). Die gescheiterte Filmproduzentin Chan-sil erhält einen Job als Haushälterin bei einer befreundeten Schauspielerin. Hier trifft sie auf einen Französischlehrer – der zugleich erfolgloser Kurzfilmregisseur ist. Er und Chan-sil kommen sich allmählich näher. Als plötzlich ein Geist auftaucht, avanciert dieser zum Liebesberater für Chan-sil. Der nach seiner Hauptfigur benannte Film ist leichtfüßig, humorvoll und unterhaltsam zugleich – und in seiner Tonalität wie eine kleine Schwester Hong Sang-soos Oeuvre entsprungen. LUCKY CHAN-SIL erhielt den KBS Independent Film Award sowie den CGV Arthouse Award und den Directors Guild of Korea Award.


Anlässlich von 100 Jahren koreanischen Filmschaffens präsentierte das Festival ein Sonderprogramm, das große Aufmerksamkeit erlangte. Hier waren unter anderem moderne Klassiker wie OLD BOY (Regie: PARK Chan-wook, 2003) und MEMORIES OF MURDER (Regie: BONG Joon-ho, 2003) zu sehen. Besonders erwähnenswert ist Bae Yong-koons WHY HAS BODHI-DHARMA LEFT FOR THE EAST? – ein Film, der 1989 seine Uraufführung in Cannes´ Un Certain Regard hatte. Im selben Jahr gewann der Film zudem den Goldenen Leoparden in Locarno. Die Handlung folgt drei Mönchen aus unterschiedlichen Generationen, die in einem abgeschiedenen buddhistischen Tempel leben: einem alten Zen-Meister, einem zaudernden Novizen und einem unbedarften Waisenjungen. Später folgt der Film dem Novizen in die Stadt und zeigt faszinierende Schauplätze aus den 80ern, die heutzutage vollständig verschwunden sind. Acht Jahre arbeitete der Regisseur an dem Film, verwendete eine einzige Kamera und schnitt das Werk per Hand. Bae hat gewaltige Naturmotive gefunden und sie mit tranceartiger, präzise eingesetzter Musik untermalt. Seine kraftvollen Bilder haben einen noch höheren Ausdruckswert als seine Plots. Ihm ist ein meisterhaftes Werk mit rauschhaften Sequenzen gelungen – aufwühlend und beruhigend zugleich.


Als gewissermaßen filmischer Taifun im koreanischen Filmschaffen kann der Film NOT IN THIS WORLD von PARK Jung-bum bezeichnet werden. Gerade erst hatte der Regisseur mit PA-GO – HEIGHT OF THE WAVE den Spezialpreis der Jury in Locarno gewonnen. In Busan feierte nun sein nächster Film Weltpremiere. Anhand eines städtischen Kosmos entwirft er eine im Realismus fußende Welt, in der Menschen keiner Arbeit mehr nachgehen können, die gleichzeitig ehrlich ist und sie ernährt. Park kreiert einen Film voll bildhafter Brutalität, in dessen Handlung es buchstäblich ums nackte Überleben geht – und aus der es keinen Ausweg geben kann. Auch weil seine vielschichtigen Figurenzeichnungen außergewöhnlich sind, zählt Park zu den wenigen zeitgenössischen asiatischen Filmemachern, die in ihren Arbeiten tatsächlich etwas wagen. Schließlich entlässt der Film seine Zuschauer mit einem zaghaft hoffnungsvollen Ausblick – der ebenso dem Busan International Film Festival zu wünschen ist.




Ansgar Vogt (Foto: privat)


Ansgar Vogt ist Filmwissenschaftler und Drehbuchautor. Er arbeitet für internationale Filmfestivals als Programmer und Berater, außerdem als Autor und Dramaturg für verschiedene deutsche Filmproduktionsfirmen. An der SungKyunKwan University, Seoul, hat er Filmanalyse unterrichtet. Seit 2007 reist er regelmäßig nach Korea.


Quelle: Magazin Kultur Korea (http://kulturkorea.org/