Ausland

Sojuflasche im Retrostil © Ina Volksdorf

Sojuflasche im Retrostil © Ina Volksdorf

Sojuflasche im Retrostil © Ina Volksdorf


Wer zurzeit in Korea in den Supermarkt geht, fühlt sich vielleicht an die eigene Kindheit und Jugend erinnert. Newtro, ein Trend, der den Stil der 60er, 70er, 80er und 90er zurückholt, hat Einzug in die Supermarktregale gehalten. Dies wird besonders deutlich an einer berühmten Soju[1]-Marke, die eine neue Interpretation ihres Produkts mit einem Flaschendesign aus den Jahren 1975 - 1983 anbietet. Die Soju-Flaschen verkauften sich innerhalb kürzester Zeit, von April bis Ende des Jahres 2019, eine Million Mal.  


Der Trend beschreibt ein nostalgisches Gefühl, die Sehnsucht nach vergangenen Zeiten. Das Besondere daran ist, dass diese Strömung vor allem von der jüngeren Bevölkerung ausgeht. Eine Generation, die sich nach einer Zeit sehnt, die sie nicht miterlebt hat, weil sie noch nicht geboren wurde, oder an die sie sich nicht mehr erinnern kann, weil sie zu jung dafür war. Diese Generation entdeckt die 60er, 70er, 80er und 90er Jahre für sich neu.


Das Wort Newtro ist eine Zusammensetzung aus den englischen Worten „new“ und „retro“ beziehungsweise „retrospective“ und wird auf Koreanisch 뉴트로 geschrieben. Es bedeutet wörtlich übersetzt „neu-retro“ und beschreibt ein Phänomen des heutigen Zeitgeists.


Der Trend zeigt sich unter anderem in einer wachsenden Zahl von Retro-Cafés, die in ihrer Einrichtung auf eine authentische Atmosphäre der 60er, 70er oder auch 80er Jahre setzen. Unter anderem lässt er sich auch an einem großen Interesse an Lebensmitteln im Retro-Design (z.B. Verpackungen, Etiketten) und an der Vorliebe für eine bestimmte Mode ablesen. Vintage-Kleidung wird immer beliebter. Zudem bieten Boutiquen Kostüme im Retro-Stil zum Verleih für Fotoshootings an.



Auf Instagram finden sich unter dem koreanischen Hashtag #뉴트로 (engl. Newtro) mehr als 100.000 Fotos, darunter Bilder von alten Spielekonsolen und Retro-Cafés. Auch die berühmte koreanische Marke Fila hat im Jahr 2019 auf das Konzept Newtro gesetzt und Schuhe herausgebracht, die sich am Design der 90er Jahre orientierten und äußerst beliebt waren.



Straße mit nostalgischem Flair im Bezirk Jong-ro, Seoul © Jonghwan Lee


Straße mit nostalgischem Flair im Bezirk Jong-ro, Seoul © Jonghwan Lee

Straße mit nostalgischem Flair im Bezirk Jong-ro, Seoul © Jonghwan Lee

Zwei Koreanerinnen, die diesem Trend folgen, sind Ellen (33) und Jiyeon (27).

Ellen favorisiert besonders die 70er und 80er Jahre: „Fast alle meine Kleidungsstücke lassen sich dem Vintage-Stil zuordnen. Ich trage sogar einen Mantel von meiner Mutter, aber niemandem fällt auf, dass er nicht neu ist.“

Beide vermuten, dass das Interesse an dem Newtro-Trend in den vergangenen drei bis vier Jahren noch gestiegen ist. Seitdem sind nach und nach Retro-Cafés entstanden. Der Seouler Bezirk Euljiro wurde auf Grund seiner großen Anzahl von Cafés in diesem Stil zu einem sogenannten hot place für junge Koreaner. Wenn Ellen ein Kaffeehaus in ihrer Freizeit besucht, dann ist es meistens ein Retro-Café.


Jiyeon ist ebenfalls fasziniert von diesem Trend: „Erst war ich nicht so begeistert davon, aber je mehr ich darüber in den Medien erfahren habe, desto größer wurde mein Interesse. Gleichzeitig wurde ich an meine Kindheit erinnert, was meine Neugier nur noch verstärkte.“


Im Gegensatz zu Ellen gefallen Jiyeon die 90er Jahre.  „Es gibt kein spezielles Jahr, das ich besonders bevorzuge, es muss nur zu meinem Stil passen, dann gefällt es mir. Aber wenn ich zum Beispiel Gegenstände aus den 90ern sehe, erinnere ich mich an meine Kindheit, das löst in mir eine große Zuneigung[2] aus. Und es führt dazu, dass ich dadurch noch mehr Interesse für diese Zeit entwickele.“


Auch in der K-Pop-Szene lässt sich der Newtro-Trend wiederfinden, so wurden die Lieder Hold von WINNER und Any song von Zico offensichtlich von der Vergangenheit inspiriert, was sich sowohl in den Farben als auch in den Outfits widerspiegelt.


Abseits vom K-Pop hat Newtro einen Platz in der Indie-Musikszene Südkoreas gefunden. Die südkoreanische Indie-Rockband Jannabi hat sich sowohl beim Stil ihrer Musik als auch ihrer Kleidung dem Retro-Stil verschrieben, obwohl keines der Mitglieder je diese Zeit erlebt hat.





Die Band Jannabi (von links nach rechts): Jang Kyung-joon, Kim Do-hyung, Choi Jung-hoon, Yoon Kyul © Peponi Music

Die Band Jannabi (von links nach rechts): Jang Kyung-joon, Kim Do-hyung, Choi Jung-hoon, Yoon Kyul © Peponi Music



2019 landete die Band mit ihrem Song For lovers who hesitate aus dem Album Legend auf Platz 2 in diversen Wochencharts. Ungefähr zur gleichen Zeit, eine Woche zuvor, hatte BTS, die berühmteste K-Pop-Band Südkoreas, ihr neues Album veröffentlicht. Die Indie-Band befand sich also zu dieser Zeit im Wettbewerb mit BTS, aber auch anderen K-Pop-Stars wie Blackpink und Taeyeon.


Die Band Jannabi besteht aktuell aus vier Mitgliedern: Choi Jung-hoon, Kim Do-hyung, Jang Kyung-joon und Yoon Kyul. Alle wurden im Jahr des Affen (1992) geboren, was auch den Namen der Band erklärt: Jannabi ist eine altertümliche koreanische Bezeichnung für Affe. 


Kim Do-hyung, Choi Jung-hoon und Jang Kyung-joon auf der Bühne bei Jannabis Korea-Tourkonzert © Peponi Music

Kim Do-hyung, Choi Jung-hoon und Jang Kyung-joon auf der Bühne bei Jannabis Korea-Tourkonzert © Peponi Music

Sie wirken mit ihren Frisuren und Outfits ein bisschen wie die koreanischen Beatles. Das ist auch kein Wunder: Auf die Frage hin, welche Band aus den 60er-70er Jahren sie am meisten fasziniert, antworten sie ganz klar: „Die Beatles!“.


Jannabi wurden im Jahr 2012 gegründet und debütierten im Jahr 2014 mit dem Singlealbum Rocket. Zu Beginn ihrer Karriere orientierte sich die Band zunächst musikalisch an dem damals vorherrschenden Musikstil, sie bemerkte jedoch bald, dass sie gern ihre eigene Musik machen wollte.


„Am Anfang war die Klangfarbe der Band noch etwas unausgereift, also haben wir Musik, die zu dieser Zeit beliebt war, imitiert, anstatt Musik zu machen, die wir selbst mochten.“


„Wir produzieren und spielen Vintage-Pop,“ sagen Jannabi selbst über ihren Stil. Ihre Inspirationen ziehen sie aus eigenen Erinnerungen und vergessener, alter Musik.



Jannabi auf der Bühne bei ihrem Korea-Tourkonzert © Peponi Music

Jannabi auf der Bühne bei ihrem Korea-Tourkonzert © Peponi Music

Jannabi auf der Bühne bei ihrem Korea-Tourkonzert © Peponi Music

Müssten sie ihren eigenen Musikstil beschreiben, würden sie ihn als „an der Vergangenheit orientiert“ bezeichnen. Von ihrer Sehnsucht nach der Vergangenheit inspiriert, wollen sie diese mittels ihrer Musik in die Gegenwart übertragen. Ein deutlicher Beweis hierfür sind die Musikvideos der Band, welche zum Beispiel den Stil der 70er oder 80er in Form von Kleidung und Alltagsgegenständen aufgreifen.


„Wir denken, dass wir bei jeder Generation mit unserer Musik Nostalgie hervorrufen können, auch wenn man uns noch nicht kennt.“


Auf die Frage, was ihnen an der Retro-Kultur gefällt, antworten Jannabi: „Die Mode, aber auch die Filme und vieles mehr. Am besten gefallen uns die Retro-Filme.“  


Und mit welchem Künstler der 60er-70er Jahre würden sie gern einmal zusammen Musik machen?

„Die beste Gruppe zu dieser Zeit aus Korea ist natürlich Sanulrim[3], und wir würden sehr gern einmal mit                                                                                                                                             dem Bandmitglied Kim Chang-wan zusammenarbeiten.“



Tassen im Retrostil © Ina Volksdorf

Tassen im Retrostil © Ina Volksdorf

Tassen im Retrostil © Ina Volksdorf

Zu seiner Vorliebe für Retro-Utensilien befragt, antwortet der Sänger Choi: „Ich hätte gern eine Vintage-Videokamera. Ich habe auch schon überlegt, sie auf Ebay zu kaufen. Da es in Korea aber keine Fotoentwicklungsstudios mehr gibt, wäre sie wohl nutzlos … .“


Auch privat lebt der Sänger die Retro-Kultur: „Ich wohne in einem alten Haus mit Holzfenstern, sammle gern Schallplatten und trinke meinen Tee aus alten Teetassen“, erzählt er.


Eine Botschaft von Jannabi an die deutschen Leser: „Hallo! Bitte bleibt alle gesund. Wir wünschen euch, dass ihr glücklich seid. Bitte hört mal in unsere Musik rein, und wenn es euch interessiert, folgt uns auf den sozialen Netzwerken. Wir werden weiterhin unser Bestes geben!“


Der Newtro-Trend zieht sich in Form von Mode, Musik und Design durch den koreanischen Alltag. Kulturwissenschaftler gehen davon aus, dass der Trend ein nicht-digitales Phänomen ist, das von einer Generation stammt, die von dem schnelllebigen digitalen Zeitalter ermüdet ist. [4]  




Gleichzeitig könnte der Trend eine Basis für einen Dialog zwischen Jung und Alt bilden und somit helfen, die Kluft zwischen den Generationen zu schließen.   

Es bleibt abzuwarten, ob das Interesse am Newtro-Trend anhält oder ob das Phänomen schon bald von einer neuen Strömung abgelöst wird.





 

[1] Soju gilt als koreanisches Nationalgetränk. Dabei handelt es sich um einen Schnaps auf Reisbasis, der ebenso dursichtig und klar ist wie Wodka.
[2] Jiyeon benutzt hier das Wort 정 (jeong) – es lässt sich nicht direkt übersetzen, man könnte es beschreiben als das Gefühl einer starken Zuneigung und den Wunsch, sich um etwas zu kümmern in Bezug auf einen Gegenstand, einen Menschen oder ein Tier
[3] Sanulrim (1977-2008) war eine der einflussreichsten Rockbands Südkoreas
[4] http://www.koreaherald.com/view.php?ud=20190404000698


 

Bild von Janina Meßmer

Bild von Janina Meßmer

Foto: Manuela Kauffmann, Kauffmann Studios GmbH

Janina Meßmer

absolvierte ihren B.A. in Koreastudien/Ostasienwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Sie interessiert sich insbesondere für den Wandel innerhalb der koreanischen Gesellschaft und ist regelmäßige Teilnehmerin des Lesekreises des Koreanischen Kulturzentrums.